Der "große Cheyenne" William Lubtchansky (li.) am Set.

Foto: Viennale

Ein markantes Motiv aus Jean-Luc Godards "Nouvelle Vague" von 1990.

Foto: Viennale

Das Jugendbuch Le Tour de la France par deux enfants (Einmal durch Frankreich mit zwei Kindern) von G. Bruno (einem Pseudonym der Madame Augustine Tuillerie) wurde 1877 als Reaktion auf den französischen Krieg mit Preußen geschrieben. Es erzählt von zwei Jungen, die sich vom Elsass aus auf den Weg zu ihrem Onkel machen, von dem sie sich erhoffen, dass er sie zu echten Franzosen machen kann.

1977 wollte der Direktor der französischen TV-Anstalt Antenne 2, Marcel Jullian, fürs Weihnachtsprogramm unbedingt eine Adaption dieses beliebten Buchs produzieren. Regisseure, die er ansprach, lehnten das Projekt als zu konservativ ab. Dann tauchte die Idee auf, Jean-Luc Godard mit der Verfilmung zu beauftragen, der damals gerade mit Six fois deux fürs Fernsehen gearbeitet hatte. Jullian hatte großes Vertrauen, aber wohl auch ein wenig Bauchweh. Er gab Godard den Zuschlag und fügte noch hinzu: "Hauptsache, am Ende kommt Le Tour de la France par deux enfants heraus."

Es kam natürlich etwas ganz anderes heraus, wie es von Godard zu erwarten war. Er benannte das Projekt nicht nur in France/tour/ détour/deux/enfants um, sondern verwandelte den erwarteten Kostümfilm in eine Dokumentation über zwei französische Kinder, die nicht als Ikonen nationaler Wiedergeburt erscheinen konnten, sondern als die ersten Erben der Generation von 1968.

Der Mann hinter der Kamera war William Lubtchansky, einer der Großen seiner Zunft. Am 4. Mai dieses Jahres ist er 72-jährig in Paris gestorben, die Viennale widmet ihm nun einen Tribute mit zwölf Filmen (darunter als der vielleicht spannendste Beitrag eben France/tour/détour/deux/ enfants), aus denen sich eine sehr originäre Perspektive auf das europäische Nachkriegskino ergibt.

Denn Lubtchansky war vielleicht der Professional, der am besten dafür geeignet war, eine Verbindung zwischen dem klassischen amerikanischen Studiokino und den Bearbeitungen desselben in der französischen Nouvelle Vague herzustellen. Er hatte keinen Stil in dem Sinn, dass er allen Sujets (und Regisseuren) bestimmte ästhetische Vorlieben überordnete, er war vielmehr jemand, dessen Arbeit sich bis zu einem gewissen Maße unsichtbar machte und jene zweite Natur in Erscheinung treten ließ, die das Kino in bestimmter Perspektive ist. Seine Ruhe am Set ist legendär, vom Regisseur Jean-Henri Roger bekam er dafür den Namen "le grand Cheyenne", seiner langen Haare und seiner souveränen Distanz wegen.

Lubtchansky bildet eine der großen Kontinuitäten im heterogenen Zusammenhang der Nouvelle Vague, aus dem Tribute bei der Viennale geht sehr schön hervor, dass im Rückblick sich gerade um Mitarbeiter der zweiten Reihe so etwas wie ein Feld ausnehmen lässt, das sie wie von selbst gebildet haben. Bei Lubtchansky erstreckt sich dieses Feld von Godard und Jacques Rivette über Otar Iossellani bis zu Philippe Garrel, es gehören aber auch Außenposten wie Claude Lanzmann (von ihm läuft Pourquoi, Israel) und Jacques Doillon (Le petit criminel) dazu oder ein Handwerker wie Jean-Pierre Mocky.

Vielfältige Perspektiven

Dessen Agent Trouble vertritt im Programm den amerikanischen Pol zu einer Zeit, da ein entsprechendes Genrekino in den USA schon in der Defensive war. Die gebirgige Landschaft, vor deren Hintergrund hier ein Autobusunfall aufgeklärt werden muss, hinter dem sich ein geheimdienstliches Komplott verbirgt, wird bei Mocky und Lubtchansky zu einem Bild für die Spannung zwischen überscharfer Optik und zu großer Nähe zum Gegenstand. Man muss erst den richtigen Aussichtsstandpunkt finden, von dem aus sich plötzlich alles darbietet - bevor es auch schon wieder verschwimmt.

Es ist nur richtig, dass dieser Tribute eher die Vielfalt der Arbeit von Lubtchansky betont als die inneren Kontinuitäten, von denen neben Godard vor allem zwei Komplexe zu nennen sind: Jacques Rivette sowie Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Bei Rivette ist Lubtchanskys Kamera häufig in Bewegung, es gibt ausgeklügelte Plansequenzen, vor allem aber lassen sie immer wieder eine Stimmung des leicht Unwirklichen bis Überwirklichen entstehen, das die Erzählräumen von Rivette entscheidend charakterisiert (perfekt wird dieser Eindruck durch Secret défense vermittelt).

Bei Straub/Huillet hingegen ist Lubtchansky ganz auf die Seite der Registratur festgelegt. Das hohe Ethos des Dokumentarischen, das gerade auch die fiktionalen Arbeiten des Regie-Duos durchzieht, führt einerseits zu einer Zurücknahme auf eine Position des "unsichtbaren" Beobachters (wie in der langen Sequenz vor einer ägyptischen Fabrik in Trop tôt, trop tard), andererseits gibt es aber gerade in dieser Zusammenarbeit Momente, in denen die ganze Filmgeschichte mit ihren unzähligen Ästhetiken auf einen Stoff einzustürzen scheint.

Dies ist in Klassenverhältnisse der Fall, Straub/ Huillets Bearbeitung von Kafkas Amerika-Roman, in dem auch so etwas wie ein Palimpsest auf das frühe "cinema of attractions" steckt. Lubtchansky war nicht zuletzt der Kameramann, der für Straub/Huillet eine ganze Geschichte des Sehens, von Cézannes Palette bis in den Louvre, erschloss. Der Tribute bei der Viennale macht dies in höchster Konzentration nachvollziehbar. (Bert Rebhandl, DER STANDARD - Printausgabe, 23./24. Oktober 2010)