Das Landei und der Universitätsprofessor: Edward Norton brilliert in "Leaves of Grass" in einer Doppelrolle.

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Bill Kincaid ist Professor für klassische Philosophie im renommiertesten Universitätszirkel der USA, in einer der sogenannten Ivy-League-Institutionen an der Ostküste. Als distinguiert und auf sein Image bedacht begegnen wir ihm schon in der ersten Szene, wenn er die libidinösen Anwandlungen einer Studentin - sie hat ihm ein Liebesgedicht in Latein gewidmet! - vehement von sich weist. Nun steht er kurz vor dem Sprung in die oberste Liga. Harvard will den Jungstar verpflichten.

Der Schnitt, der aus dieser Welt herausführt, könnte kaum kontrastreicher sein: die Großaufnahme eines unrasierten Mannes mit schulterlangem Haar, der gerade in einem Diner in breitestem Slang - einer Art amerikanischem Steirisch - von einem dubiosen Geschäft mit Drogen erzählt. Später wird man erfahren, dass er aus der Mitte der Staaten, aus Oklahoma, stammt und der Zwillingsbruder von Bill ist: Allerdings hat es Brady Kincaid nie aus der engen Heimat herausgeschafft und ist den familiären Wurzeln (und den ärmlichen Verhältnissen) damit entsprechend näher geblieben.

Der Reiz dieser Konstruktion liegt in der Besetzung: Die Zwillingsbrüder werden beide vom Schauspieler Edward Norton verkörpert, der sein souveränes Spiel mit Sprachfärbungen und gestischen Idiosynkrasien hier einmal mehr eindrucksvoll unter Beweis stellen kann. Dabei dient die Doppelrolle keineswegs nur als Einladung zu vordergründigem Virtuosentum: Norton gelingt es, trotz der satirischen Schlagseite Bradys - sein Leben hat er der Zucht und dem Verkauf von Marihuana verschrieben -, aus beiden Figuren eigenständige Charaktere zu formen, die sich in mancher Hinsicht durchaus wieder ähneln.

Tim Blake Nelsons sympathischem Film Leaves of Grass gibt er damit ein verlässliches Zentrum, was der auch ziemlich nötig hat: Denn die Erzählung folgt gänzlich unberechenbaren Bahnen und streift so nebenbei die unterschiedlichsten generischen Ausläufer - von einer ländlichen Milieusatire über eine angedeutete Liebesgeschichte bis zum Mafiadrama im jüdischen Zirkel (samt blutigen Shootouts) reichen die Versatzstücke, die in diesem Crossover enthalten sind.

Nelson, selbst aus Oklahoma und im Film auch in einer Nebenrolle zu sehen, arbeitet dabei ähnlich patchworkhaft wie die Coen-Brüder, ohne deren rigiden Formalismus zu erreichen. Vielleicht ist das erzählerische Schlingern aber auch nur eine Methode, dem Chaos Ausdruck zu verleihen: Dem Philosophen Bill Kincaid, der auf die Verlässlichkeit des gedruckten Wortes vertraut und damit auf die Erklärbarkeit der Welt, wird jedenfalls spätestens, als er von einer Harpune durchstoßen wird, klar, dass es Ereignisse im Leben gibt, mit denen man nicht rechnen kann. Aber eben muss. (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Printausgabe, 21.10.2010)