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Die geplante Pensionsreform bewegt weiterhin die Massen in Frankreich. In Lyon wurden Autos und Mülltonnen in Brand gesetzt.

Foto: Reuters/Pratta

Sie denken aber keineswegs schon an die Pensionierung.

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Man könnte die aufgetürmten grünen Abfallkübel für eine zeitgenössische Skulptur halten. Doch sie befinden sich nicht vor dem Pariser Stadtmuseum Carnavalet, sondern ein Tor weiter, vor dem Lycée Victor Hugo. Eine Handvoll Schüler schiebt Wache. "Wir blockieren den Eingang jeden Tag um 6.30 Uhr, bevor die Rektorin die Polizei ruft" , grinst Antoine durch seine Zahnspange: "Die Flics kommen immer zu spät."

Seit Tagen wird die Mittelschule im Marais-Viertel von den Schülern bestreikt. Ausdauernd, aber friedlich. "Die Randalierer, die sich unserer Bewegung ungefragt anschließen, sind Deppen" , meint Antoines Freundin Esther, ebenfalls 15-jährig, ebenfalls übernächtigt. "Uns ist es ernst mit unserem Protest. Wir sorgen uns um die Zukunft."

Doch das Pensionsalter, das Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy von 60 auf 62 Jahre erhöhen will, ist für sie noch weit entfernt. "Je länger die heute aktiven Leute arbeiten, desto schwieriger wird es für uns, einen Job zu finden" , kontert Esther, die einmal Schauspielerin oder Archäologin werden möchte.

Antoine hat selbst noch keine Berufsvorstellung; umso kategorischer weist er das Argument der Regierung zurück, die Pensionsreform nütze zuerst den Jugendlichen, da sie die Pensionskasse langfristig sichere: "Sarkozy sagt, wir müssten weniger Pensionsbeiträge zahlen, wenn die Leute später in Pension gehen. Aber es geht nicht ums Geld - das findet man notfalls immer. Es geht darum, dass die Erwerbstätigen ihren Arbeitsplatz nicht fünfzig Jahre blockieren sollten."

Ein paar Straßenzüge weiter, beim Lycée Sophie Germain, ist die Lage spürbar gespannt. Vor der torhohen Barrikade warten mehrere Dutzend Schüler auf den nächsten Angriff der Polizei, nachdem diese die enge Gasse vor der Schule schon am Vortag mit Tränengas geräumt hatte.

"Die spritzten uns Tränengas direkt in die Augen" , erzählt Melissa und zeigt auf ein Schild mit der Inschrift "Le Monde lügt" . Die Zeitung habe geschrieben, die Polizei habe nur in die Luft gezielt. "Das stimmt nicht, die haben uns richtig vergast" , ruft ein Jugendlicher in die Runde, wohl um das nur ein paar Schritt entfernte Holocaust-Memorial des alten jüdischen Viertels wissend.

Wer sich hier nach den Streikmotiven erkundigt, hört das gleiche Argument: Wenn die aktive Generation erst mit 62 in Rente gehe, werde dies den Arbeitsmarkt noch mehr verstopfen, meint die 16-jährige Sophie. "Und das ist erst der Anfang; wenn wir einmal alt sind, werden sie uns wahrscheinlich erst mit 75 in Pension gehen lassen. Mit 75!"

Der Hinweis der Regierung, frühere Versuche mit Frühpensionierung und niedrigem Pensionsalter hätten die Wirtschaft noch stärker belastet, lässt Pablo nicht gelten: "Die Erhöhung des Pensionsalters fördert die Erwerbstätigen mit Berufserfahrung. Sie benachteiligt Berufseinsteiger."

Klassenkollegin Roxanne fügt an, sie demonstriere und streike auch aus Solidarität mit den Erwachsenen: "Meine Mutter ist Lehrerin und würde selbst streiken. Da sie dabei jeden Tag 100 Euro verlieren würde, kann sie es sich schlicht nicht leisten.

Jetzt plärrt laute Rapmusik über ein Megafon, das ein Schüler an seinen Handy-Lautsprecher hält. Die anderen beginnen mitzusingen, dann skandieren sie lachend den Slogan, den ein anderer auf eine Kartontafel gepinselt hat: "Sarko serre tes fesses, on arrive en vitesse" - höflich übersetzt mit: "Pass auf, Sarkozy, wir kommen."

Eine erste Delegation des Lycées Sophie Germain verlässt die Barrikade Richtung Kundgebung. Gefragt, ob er mit dem Sieg der Protestbewegung rechne, antwortet Pablo gelassen: "Keineswegs." Sophie ist gleicher Meinung. "Das nützt alles nichts. Aber einfach stillsitzen können wir auch nicht. Ab geht's auf die Demo!"

Die Protestkundgebungen in Paris und gut 200 anderen Städten Frankreichs waren gestern etwas weniger stark befolgt als in den fünf Aktionstagen zuvor. Dafür nahmen die Gewaltakte zu. In Le Mans brannte eine Schule aus, in Nanterre bei Paris lieferten sich vermummte Randalierer Straßengefechte mit der Polizei. Vielerorts brannten Autos.

Premierminister François Fillon erklärte, die Polizei habe seit Wochenbeginn 1100 Jugendliche verhaftet. Infolge der Streiks fielen etwa dreißig Prozent der Flüge und Züge aus. Die Spritknappheit wurde durch Fernfahrerblockaden verschärft; etwa 2500 der 13.000 Tankstellen Frankreichs sind leer. Der Senat sollte die Rentenreform am Donnerstag absegnen. Nicolas Sarkozy erklärte, er halte an der Reform fest. (Stefan Brändle aus Paris/DER STANDARD, Printausgabe, 20.10.2010)