Am Anfang wollte Daniel Everett das Volk der Pirahã missionieren. Er kehrte als Atheist zurück - mit neuen Erkenntnissen über eine einzigartige Sprache.

Foto: Martin Schoeller

Buchtipp

  • Daniel Everett: "Das glücklichste Volk der Welt: Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas", € 25,60 / 416 Seiten, DVA, München
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Wiener Hofburg, Dachgeschoß: Die Oktobersonne lässt sich ausnahmsweise blicken und schickt ihre Strahlen in die Büroräume des Museums für Völkerkunde. Daniel Everett hat es sich auf einem Sofa bequem gemacht und erzählt sofort begeistert von seiner Arbeit. Dazu schenkt er sich ständig Kaffee nach. "Ich nehme alles an Koffein, was ich kriegen kann", sagt der Linguist mit einem breiten Lächeln.

Der bärtige Endfünfziger gilt als einer der streitbarsten Sprachforscher unserer Zeit und als Kritiker der universalistischen Theorien Noam Chomskys, die behaupten, dass wichtige Sprachfähigkeiten des Menschen angeboren und Teil unseres genetischen Programms sind. Everetts Gegenthesen sind auf Basis eigener Erfahrungen entstanden, die so abenteuerlich sind, dass er darüber einen Bestseller schrieb, der heuer unter dem Titel Das glücklichste Volk der Welt auch auf Deutsch erschien.

Die Forscherkarriere des Linguisten, der dieser Tage gleich zweifach auf Symposien in Wien referierte, begann in einem wenig wissenschaftlichen Umfeld. Sein erster Arbeitgeber war nämlich das Summer Institute of Linguistics (SIL). Das ist eine Missionsorganisation, deren Ziel es ist, indigene Völker durch Übersetzung der Bibel in ihre jeweilige Sprache der christlichen Botschaft nahezubringen und sie so zu bekehren.

1977 reiste Everett als junger SIL-Missionar zusammen mit seiner früheren Ehefrau und ihren drei kleinen Kindern zum ersten Mal an den Maici, einen Nebenfluss des Amazonas, die Heimat des Stammes der Pirahã. Der US-Amerikaner traf auf eine Kultur, die nicht unterschiedlicher zu seiner eigenen hätte sein können, eine Begegnung mit weitreichenden Folgen - wissenschaftlich wie auch persönlich.

Wachsendes Staunen

Bevor er das Wort Gottes in Pirahã übersetzen konnte, musste Everett die Sprache selbstverständlich erst einmal lernen. Das tat er durch unermüdliches Fragen, anfangs noch mittels Handzeichen und Mitschreibens der Antworten in Lautschrift. Der Missionar hatte schon bald Erfolg.

Er konnte sich mit den Menschen verständigen, doch je mehr er lernte, desto mehr wuchs auch sein Staunen. Pirahã ist, gemessen an unseren westlichen Maßstäben, eine absolut bizarre Sprache. Ihr fehlen Bestandteile, ohne die eine wirksame Kommunikation unmöglich scheint. Das verblüffendste Merkmal: Es gibt in Pirahã weder Zahlen noch eine klare Unterscheidung zwischen Singular und Plural. Mengen lassen sich also nicht eindeutig erfassen. Everett wollte das zuerst nicht glauben. Wie könnte es sein, dass eine Sprache kein System zur Quantifizierung kennt? "Ich dachte, ich muss nur intensiver suchen, um es zu finden." Aber er fand nichts.

Das Geheimnis der Zahlenlosigkeit eröffnete sich dem Linguisten erst, nachdem er begann, die Pirahã-Kultur in ihrem Wesen zu verstehen. Seit 1977 hat Daniel Everett immer wieder für Monate mit diesen Menschen zusammengelebt, zusammengezählt sieben Jahre lang. Nach anfänglichen Schwierigkeiten akzeptierten sie ihn, ließen ihn an ihrem Alltag teilhaben.

Eine völlig neue Erfahrung. Everett stellte fest: Die Pirahã leben wahrhaftig im Hier und Jetzt. Ihr Denken und Empfinden orientiert sich an der Unmittelbarkeit des Erlebens. Was sie nicht selbst sehen oder von Augenzeugen erzählt bekommen, existiert praktisch nicht - und ist somit nicht von Interesse. Der Vergangenheit wird ebenfalls kaum Bedeutung beigemessen.

Auch Privateigentum ist den Pirahã eher fremd. Man teilt in der Regel, was man hat, ob Kanus, Fischereigeräte oder den Fang des Tages. Letzterer wird übrigens immer frisch verzehrt, genauso wie Jagdbeute oder Früchte. Vorratshaltung ist diesem Volk unbekannt, und seine Angehörigen planen auch nicht weit in die Zukunft hinein.

Wozu also zählen oder rechnen? "Zahlen sind Generalisierungen", erklärt Daniel Everett. Drei Affen und drei Orangen haben in Wirklichkeit nichts gemeinsam.

Man mag die Pirahã für primitiv halten, doch Everett plädiert für eine andere Sichtweise. Weil sich die Kultur dieser Fischer und Sammler im Wesentlichen auf das Heute und das darin Nützliche beschränkt, kennen sie auch viele Sorgen und Ängste nicht, welche die meisten anderen Bewohner dieser Erde plagen. Pirahã erfreuen sich am Leben, so wie es ist, betont Everett. Sie sind ein sehr glückliches Volk. Einen Gott oder eine Heilslehre brauchen solche Menschen nicht. Missionieren zwecklos.

Atheistische Bekehrung

Das bekamen er und seine SIL-Kollegen bald zu spüren. "Wir wollen Jesus nicht", sagten die Pirahã. Ende der Debatte. Der Missionar indes fing an, sich immer mehr Gedanken zu machen und wurde zum Atheisten. 2001 kündigte er sein Engagement beim SIL auf und widmet seine Arbeitskraft seitdem vollends der Wissenschaft. Seine erste Ehe mit einer tiefgläubigen Christin zerbrach.

In der linguistischen Forschung haben Everetts Studien derweil heftige Debatten ausgelöst. Seine Beobachtungen und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen (vgl. u. a. Current Anthropology, Bd. 46, S. 621) stehen in direktem Gegensatz zu den von Noam Chomsky und dessen Anhängern proklamierten Grundsätzen, wonach das menschliche Gehirn über ein hypothetisches Sprachorgan verfügt, und alle Sprachen dementsprechend nach universellen Prinzipien funktionieren.

Das sei zu stark vereinfachend, meint Daniel Everett mit Verweis auf die einzigartige Sprache der Pirahã. "Kultur hat einen viel größeren Einfluss auf Sprache, als wir bislang dachten." (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Printausgabe, 20.10.2010)