"Das laienhafte Verständnis von Sicherheit lautet: Wenn ich die Notbremse ziehe, bleibt der Zug stehen. Aber das ist nicht immer die Realität", erklärt Chefinstruktor Heinrich Rektor und betätigt die Notbremse am U-Bahn-Simulator in Wien-Hütteldorf. Sofort ertönt ein durchdringendes Signal. "Natürlich wird sich jeder wundern, dass der Zug nicht sofort hält, aber wenn er bereits eine gewisse Geschwindigkeit erreicht hat, ist es besser, ihn erst in der nächsten Station zum Stehen zu bringen als mitten auf der Strecke." Eine Handhabung, die sowohl für die manuelle als auch für die automatische Steuerung des Zuges gilt.

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"Wir nehmen nicht jeden. Die Arbeit ist wenig familienkompatibel, die Verantwortung hoch." Rektor prüft die AbsolventInnen der U-Bahn-Fahrerausbildung auf Herz und Nieren. Ein Berufsbild, das es nur bei den Wiener Linien gibt. "Fahrer" lautet die offizielle Bezeichnung, die am Ende einer 44-tägigen Ausbildung steht. 15 Tage sind Praxis, der Rest ist Theorie.

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Etwa sechs "Fehlersuchtage" verbringen die SchülerInnen am U-Bahn-Simulator im Bahnhofsgebäude Wien-Hütteldorf. Hier werden Störungen für den ganzen U-Bahnzug simuliert, man lernt unvorhergesehene Situationen zu meistern. "Am Simulator kann ich dem Schüler Fehler unterjubeln, die ich draußen nicht machen kann. Hier sind auch extreme Simulationen möglich, etwa dass die Bremsleitung ein Loch hat", widmet sich Rektor an seinem Instruktor-Arbeitsplatz der Erzeugung von Störungen.

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Wie bei jedem motorisierten Fahrzeug muss auch der U-Bahnfahrer zuerst einen Zündschlüssel betätigen. Anschließend ist eine Vorauswahl zu treffen. 000 ist die Automatikstellung, F steht für Fahren, P für Fahren auf höchster Stufe, SB für die Sicherheitsbremse. "Die Automatik ist kein Muss, sondern ein Kann", erklärt der Instruktor. Jeder Fahrer entscheidet für sich selbst, ob er den Zug manuell oder per Automatik steuern will.

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Einmal etwas länger auf den grünen Knopf drücken, der Zug beschleunigt von selbst und bleibt in der nächsten Station stehen. Erst durch einen neuen Impuls setzt er sich wieder in Bewegung. Von Betriebsbeginn bis 6.30 Uhr ist die Automatik abgeschaltet und alle Fahrer steuern manuell. "Es gibt auch zwischendurch immer wieder Anweisungen, manuell zu steuern, etwa im Herbst, wenn nasse Blätter auf den nicht überdachten Schienen liegen", so Rektor.

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Während der Fahrt muss der Fahrer den Bremshebel ständig in der Hand halten. Im Automatikbetrieb betätigt er ihn nur dann, wenn ein Notfall auftritt, "aber das kommt sehr selten vor", weiß Rektor. Für den Fall, dass der Fahrer das Bewusstsein verliert, tritt die Totmanneinrichtung in Kraft. Vor jeder Fahrt muss sie aktiviert und in Folge immer wieder bestätigt werden, sonst ertönt ein Warnsignal und der Zug bremst sich automatisch ein. Darüber hinaus passiert die U-Bahn-Garnitur immer wieder Haltepunkte, an denen eine exakte Geschwindigkeit eingehalten werden muss. Verliert ein Fahrer im Nicht-Automatikbetrieb das Bewusstsein und passiert einen solchen Haltepunkt, hält der Zug ebenfalls automatisch.

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Das Automatiksystem im U-Bahnführerstand ist mit der zentralen Leitstelle verknüpft. Die Zugsicherheitsanlage (LZB) überwacht die Abstände und Intervalle der Züge, ein Computerprogramm errechnet die Fahrzeiten. Das System weiß, wohin welcher Zug fährt und stellt automatisch die Weichen. Die kürzest möglichen Intervalle der Wiener U-Bahn sind zwei Minuten. Der Regelbetrieb zu Stoßzeiten und zu speziellen Anlässen erfolgt im zweieinhalb-Minutentakt. Pro Zug können 800 Fahrgäste befördert werden. "Das ist europaweit einzigartig", betont Rektor.

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Wäre ein vollautomatisierter U-Bahnbetrieb ohne Fahrer möglich? "Jeder, der meint, da geht eh alles automatisch und U-Bahnfahren ist ein Klacks, soll es einmal ausprobieren", fordert der Instruktor heraus. "Von der Technik her wäre es zwar ohne weiteres möglich, dass wir die U-Bahn alleine fahren lassen. Aber finanzierbar ist das sicher nicht." Etwa wegen der notwendigen Verglasung zwischen Bahnsteig und Zug. "Was aber kein automatisches System durchführen kann, ist die Abfertigung der Fahrgäste am Bahnsteig".

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"Achtung Sonderzug" - im Schulungswagen auf der Strecke übt man vorerst ohne, später, im laufenden Betrieb mit Fahrgästen. Voraussetzung dafür ist die erfolgreiche Absolvierung der Abfertigungsprüfung während der Ausbildung. "Es ist nicht einfach, in stark frequentierten Stationen den richtigen Zeitpunkt für das 'Zug fährt ab' zu erkennen", weiß Rektor. Neuerdings geht diesem ein "Zurückbleiben bitte" voran. Als Abfertigungshilfen dienen dem Fahrer Spiegel und Monitore. Die Türen abzufertigen ist allerdings auch ohne Spiegel und Monitor möglich: Mit dem Handmikrofon kann sich der Fahrer ein Stück vom Zug weg bewegen und sich direkt zu überzeugen, ob alles in Ordnung ist.

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Die Beobachtungsmonitore am Simulator dienen vor allem der Kontrolle durch den Prüfer. Monitor acht zeigt den Status von Druckluft und Bremsen an. Auf Monitor drei lässt sich jede Schalthandlung mit verfolgen. Auf Monitor sieben ist die Sicherheitsschleife zu sehen: Es wird visualisiert, welche Türen offen, welche geschlossen sind und ob Störungen vorliegen.

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Die Störmeldetafel hinter dem Fahrer hilft mittels visueller Anzeige zu erkennen, wo der Fehler liegt. Der Federspeicher lässt sich nicht lösen? Am Lämpchen wird sichtbar, in welchem Halbwagen der Fehler liegt. Der Fahrer muss den Zug verlassen und selbst die Störung an Ort und Stelle beheben. Nicht ohne vorher den Schlüssel aus der Zündung gezogen zu haben.

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"Jede Funktion muss dem Fahrer in Fleisch und Blut übergehen", betont Rektor. "Wenn ich ihn um zwei in der Früh aufwecke, muss er wissen, was er tut, denn im Akutfall bleiben nur wenige Sekunden zu Handeln." Damit die Routine nicht zur Trägheit wird, verpflichten sich alle Fahrer zu regelmäßigen Auffrischungen des Erlernten.

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"Dass jemand vor die U-Bahn springt oder gestoßen wird, liegt im Promillebereich. Seit wir in solchen Fällen in den Durchsagen von einer 'Betriebsstörung' sprechen, konnte die Suizidrate dramatisch gesenkt werden", berichtet der Instruktor, denn der Impuls liege in der Nachahmung. Um mit Suizid, Gewalt und Konfliktsituationen fertig zu werden, bieten die Wiener Linien Deeskalationskurse, die verpflichtend absolviert werden müssen. So helfen beim "Projekt Sozius" Kollegen einander in schwierigen Situationen.

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Rektor: "Die Sicherheit der Fahrgäste ist ein Teil der Ausbildung, der durch unsere Hände geht." In Kombination mit einem Leitsystem, das menschliches Versagen ausschließt, indem zwei Züge nicht aufeinander auffahren können, wird die Wiener U-Bahn durch die Kombination Mensch-Maschine auch in Zukunft eine der sichersten weltweit sein. (tin, derStandard.at, 19.10.2010)

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