Franz Schultheis, Berthold Vogel, Michael Gemperle (Hg.): "Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch" , UVK Verlag, ISBN 978-3-86764-244-6, 759 Seiten, Preis: 39,90 Euro

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"Die Erfahrungen der Arbeitskräfte finden oftmals nur am Rande Berücksichtigung", schreiben die Autoren in der Einleitung von "Ein halbes Leben". Wenn es um das Thema "Arbeitsmarkt" geht, kommen meist nur Experten, Demoskopen oder Personalleiter zu Wort, die über nackte Zahlen und Statistiken referieren, basierend auf quantifizierbaren Datenmengen. Einen gänzlich anderen Anspruch verfolgt das Buch "Ein halbes Leben", das den Betroffenen der "neuen Arbeitswelt" eine Stimme verleiht. In Form von Tiefeninterviews, um anhand von persönlichen Erfahrungen den tiefgreifenden Strukturwandel am Arbeitsmarkt nachvollziehbar zu machen, so die Intention der Forscher - abseits von nackten Zahlen und generalisierenden Sichtweisen.

Verschiedene soziale Ebenen

Das Resultat ist ein Kaleidoskop von Erwerbsbiografien, die sich wie Mosaiksteine zu einem Abbild der Arbeitsrealität zusammenreihen. Vertreten sind Beschäftigte aus Österreich, Deutschland und der Schweiz, die aus komplett unterschiedlichen Branchen kommen; vom Bergarbeiter über die Sexarbeiterin bis zur Apothekerin. Jeder der 50 Interviewten hat eine Geschichte zu erzählen, die selbstverständlich nicht den Gesamtzustand eines Metiers widerspiegelt, sondern nur einen persönlichen Aspekt eines größeren Ganzen destilliert. Allen gemeinsam ist, dass sie auf mindestens 20 Jahre Arbeitsleistung zurückblicken können und dementsprechend aus einem reichen Fundus an Erfahrungen schöpfen.

Lagerarbeiterin

Da ist zum Beispiel eine österreichische Lagerarbeiterin, die seit 23 Jahren für ein großes Versandhandelsunternehmen arbeitet und von einer Entwicklung des kontinuierlichen Wandels berichtet. Die neue Struktur des Onlinehandels hat die Unternehmensphilosophie revolutioniert. Und zwar zum Nachteil von vielen Beschäftigten. Sie wurden aufgrund der Ortsungebundenheit überflüssig. Doppelte Logistikstrukturen werden durch die Internationalisierung der Dienstleistungen, den freien Warenverkehr in der EU obsolet. Gravierende Veränderungen, die Frau Polz, so der Name der 46-Jährigen, zu spüren bekommt. Und das bei einem Nettoverdienst von 1.000 Euro pro Monat für Vollzeitarbeit.

"Mit dem Geld ist nicht wirklich zu leben", sagt die gelernte Einzelhandelskauffrau, die zum Zeitpunkt des Interviews schon auf Jobsuche war: "Ich habe im Handel, also im Verkauf eigentlich nur meine Lehrzeit. Ich habe keine Praxis. Sie befürchtet, keine Beschäftigung mehr zu finden: "Wer will jemanden, der über 20 Jahre weg ist?" "Unqualifiziert trotz Lehre", so ihr Resümee. Frau Polz berichtet von großem Druck, der auf den Schultern der Arbeitnehmer lastet: "Wenn wir gewissen Sachen nicht erreichen, sind wir weg." Ein Standortwechsel stehe immer im Raum: "Das ist Erpressung", kritisiert sie das ständige Damoklesschwert. "Es wird nicht mehr geschätzt, was man an Leistung bringt." Als Betriebsrätin hatte Frau Polz einen Kündigungsschutz. Genutzt hat ihr dieser allerdings nichts mehr. Ein halbes Jahr nach dem Interview beschloss die Konzerleitung, das Verteilerzentrum in Österreich zu schließen. Die 270 Mitarbeiter verloren ihren Job.

LKW-Fahrer

Da ist auch ein gewisser Herr Stempfer, der über 20 Jahre im Speditionswesen beschäftigt war und den Entwicklungen in dieser Branche anhand seiner Erfahrungen ein Gesicht gibt. Herr Stempfer, ein Steirer Ende 50, war 20 Jahre als LKW-Fahrer tätig - buchstäblich bis zum Zusammenbruch. Besonders dramatisch, erzählt er, habe sich der Zeitdruck im Transportwesen zugespitzt. Dieser manifestiere sich in einer verstärkten Konkurrenz, einer Entsolidarisierung unter den Arbeitern. Erschwerend hinzu komme noch die "Regulierungswut" der Behörden, die den Fahrern immer strengere Regeln auferlegen. Mit dem Ziel, die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Eine Arbeitszeitregelung mit verordneten Ruhephasen, die Herr Stempfer als quasi "Entmündigung" kritisiert.

"Der Druck ist heute psychisch irrsinnig hoch", sagt er über die veränderten Arbeitsbedingungen: "Es gibt nicht mehr so wie früher ein Miteinander, sondern jetzt gibt es schon ein Gegeneinander, was in dieser Branche sehr gefährlich sein kann." Das führe so Aggressivität und Spannungen unter den Kollegen, so der 57-Jährige, der das auf den enormen Preisdruck zurückführt. Initiiert wurde dieser durch die billige Konkurrenz aus dem Osten, klagt er. In den Augen des Steirers ist es nicht mehr fünf vor zwölf, sondern "schon zehn nach zwölf". Gemeinsame Behördenwege oder Reparaturarbeiten, die früher unter den Fahrern auf der Tagesordnung standen, gebe es nicht mehr. "Jeder, der heute draußen auf der Straße als internationaler Fernfahrer unterwegs ist, ist ein Einzelkämpfer." Ein Einzelkämpfer, der Job und Familie kaum unter einen Hut bringen könne: "Du fährst Montag weg und kommst Samstag nach Hause." Am Ende einer immer längeren Kette an Frustrationsmomenten ist beim Steirer die Kündigung gestanden. Er hat sich zum Finanzdienstleister umschulen lassen und verdingt sich nun als Selbstständiger.

Putzfrau

Und da ist noch eine bosnische Reinigungskraft, die anonymisiert als Frau R. bezeichnet wird und im Gemeindeamt einer Grazer Umlandgemeinde arbeitet. Im Bosnienkrieg flüchtet Frau R. mit ihren Kindern und ihrem Schwiegervater nach Kroatien. Von ihrem gewalttätigen Mann ließ sie sich scheiden. Um für ihre Familie sorgen zu können, verschlug es sie mangels Beschäftigungsmöglichkeiten in Kroatien nach Österreich. Sie fand illegal Arbeit in einer Buschenschank, wo sie bis zu 16 Stunden pro Tag schuftete. Das geringe Gehalt schickte sie nach Kroatien zu ihrer Schwester, bei der die Kinder untergebracht waren. In der Buschenschank lernte sie ihren heutigen Mann kennen. Die Eheschließung mit dem Österreicher legalisierte ihren Aufenthaltsstatus. Die Kinder, von denen sie sieben Jahre getrennt war, konnten endlich nachkommen.

"Dort habe ich in der Früh bis fast um Mitternacht gearbeitet", beschreibt Frau R. ihren Job in der Buschenschank: "Das war so schwierig für das Kreuz und die Füße." Dennoch blickt sie mit großer Dankbarkeit auf ihre ehemaligen Arbeitgeber zurück. Schließlich haben ihr diese den Weg nach Österreich geebnet. "Die Leute sind noch heute für mich wie Familie", sagt sie. Weitere berufliche Stationen von Frau R. waren zwei Autohäuser, wo sie ebenso als Reinigungskraft arbeitete wie heute in einem Gemeindeamt. Als Angestellte wird sie von der Gemeinde beschäftigt. Im Gegensatz zu vielen anderen in der Branche, die nicht direkt bei einem Betrieb angestellt sind, sondern über den Umweg einer Putzfirma arbeiten müssen. Und da, erzählt Frau R., seien die Arbeitsbedingungen viel schwieriger. Weniger Zeit für die Tätigkeiten und mehr Druck. Frau R. hofft, noch viele Jahre als Putzfrau tätig zu sein: "Meine Arbeit macht mich glücklich."

Kontrast transparent machen

Die Porträts in dem Buch, die von einer 45-köpfigen Forschergruppe stammen, orientieren sich an den Arbeiten des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der mit seiner Studie "Das Elend der Welt" den Referenzpunkt für "Ein halbes Leben" bildete. Die Interviews sollen dazu dienen, die Arbeitsrealität mit den Vorstellungen des Managements zu kontrastieren, wo die Gewinnmaximierung als alleiniges Ziel postuliert wird. Die Einzelschicksale dahinter werden hier vor den Vorhang gebeten. Ein kleines Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit, gepresst in 759 Seiten. (Oliver Mark, derStandard.at, 19.10.2010)