Annick De Splenter ist eine Traumfrau. Zumindest für viele Bier trinkende Besucher ihrer Stadtbrauerei Gruut in Gent. Früher hat sie im eigenen Haus gebraut, erzählt sie. Küche, Garage, Schlafzimmer wurden als Brau- und Lagerstätten missbraucht. Später wechselte sie in ein Labor, um mit staatlicher Unterstützung weiter zu experimentieren. Ihr Bier sollte kein süßes sein, aber ohne Hopfen auskommen. So wie jenes, das im Mittelalter im vom Frankreich beherrschten Teil von Gent am linken Ufer der Leie gebraut wurde. Dem damaligen Bier wurden Gewürze, Gruuts, zugesetzt. Die Rezepte waren in Vergessenheit geraten, aber De Splenter lässt die Tradition wieder aufleben: Nur drei Gewürze seien für Bitterkeit und Geschmack ihres Bieres zuständig. Welche es sind, verrät sie nicht.
De Splenters Gruut-Bier ist nur eine Spielart der vielfältigen belgischen Biertradition, die auf ihr kühles Blondes fixierte Mitteleuropäer mit spontangegärtem Lambiekbier, wahlweise mit Sauerkirsche (Kriek) oder Kandiszucker (Faro), oder mit einem mit Himbeeren versetzten Becasse Framboise überrascht. Oder schockiert.
Es gibt selten eine Region, die so untrennbar mit der Gegend verbundene, kulinarische Klischees bietet. Und sie wollen ausgekostet sein: Bier will in allen möglichen und unmöglichen Geschmacksrichtungen durchprobiert werden. Die Muscheln, die man in rauen Mengen zu sich nimmt, verlangen Fritjes, ja, Pommes frites, als Begleitung. Pralinen, natürlich handgefertigte Spitzenqualität, sollten sich nicht mit konventioneller Nougatfüllung zufrieden geben, sondern exotische und experimentelle Noten wagen: Chili sowieso, warum nicht auch Wasabi? Oder Austern? Die flämischen Schoko-Thinktanks schaffen immer neue Spielarten.
Die glorreichen Geschmacksspezialisierung auf Bier, Muscheln und Pralinen ist auch städtebaulich entsprechend reich und geschichtsträchtig umrahmt. Das Auge isst ja bekanntlich mit. Das mittelalterliche Juwel Brügge, profitiert heute von einem Umstand, der den Einwohnern einige Jahrhunderte hindurch ziemlich auf die Nerven ging: Der florierende Tuchhandel mit den Briten brach ein, als der Flussarm, der die Stadt mit dem Meer verband, im 15. Jahrhundert versandete. Die Stadt verpasste die Industrielle Revolution. Sie war arm, dafür schön. Erst 1907 bekam die Stadt mittels eines neuen Hafens wieder Zugang zum Meer. Dank eben jener erhaltenen Bauten und der erwähnten kulinarischen Spezialisierungen, die Touristen anlocken, ist die Stadt jetzt nicht mehr arm, aber immer noch schön.
Gent, die Nachbarstadt, die einst im Schatten Brügges stand, ist nun die größere der beiden (Industrielle Revolution nicht versäumt) und bietet einen weniger homogenen Epochenmix: Hier ist vom Kornspeicher aus dem 12. Jahrhundert über die Weberhäuser im Stadtteil Patershol aus dem 17. Jahrhundert bis zum neoklassizistischen Opernhaus aus den 1840er-Jahren jeder Stil vorhanden. Das Rathaus allein vereint in seiner Fassade schon verschiedene Epochen. Das örtliche Marriott wurde hinter Fassaden mehrerer alter Stadthäuser eingepasst.
Neues Stadtmuseum
Mehr über Höhen und Tiefen der Genter Geschichte ist im neuen, am 9. Oktober 2010 eröffneten Stadtmuseum Stam zu erfahren. Im Kulturareal des Bijlokeviertels, das auch per Wassertaxi auf der Leie erreichbar ist, wurde ein ehemaliges Kloster umgebaut und erweitert, um darin ein modernes Ausstellungskonzept umzusetzen. Die Stadtgeschichte wird in multimedial aufbereiteten Stationen zugänglich gemacht. Ein Raum, in dem Besucher an Touchdisplaykonsolen virtuelle Objekte herumschieben, um sie dann als Filme in den Raum projizieren zu lassen, konterkariert das behutsam revitalisierte mittelalterliche Refektorium der Bijloke-Abtei. Unter Fresken aus der Zeit des flämischen Vorzeigemalers Jan van Eyck sollen hier Konzerte stattfinden. Nachdem man Gent nach absolvierter Museumsrunde von der ersten Siedlung bis zu den Zukunftsplänen kennt, kann man in der Abtei auch vorzüglich darüber nachdenken, wer wohl 1934 das linke Paneel des berühmte Genter Altars Van Eycks gestohlen hat. Der Kunstraub ist in Gent noch immer ein heißes Thema. (Alois Pumhösel/DER STANDARD/Printausabe/16.10.2010)