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So schaut der Totengräber des europäischen Wohlfahrtsstaates aus: der britische Finanzminister George Osborne.

Foto: REUTERS/Toby Melville

Mit seinen radikalen Sparplänen verabschiedet sich der britische Finanzminister George Osborne vom seit 1945 gültigen Prinzip, dass Sozialleistungen allen Bürgern zustehen - auch der Mittelschicht.

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Der moderne Wohlfahrtsstaat wurde 1945 in Großbritannien geboren. In diesen Tagen findet er wiederum in Großbritannien sein Ende, da sich der britische Finanzminister George Osborne nun vom Konzept der "Leistungen für die Allgemeinheit" verabschiedet, also von der Vorstellung, wonach nicht nur die Armen, sondern alle von sozialer Absicherung profitieren sollten.

Der Wohlfahrtsstaat wurde von seinem geistigen Vater, Lord Beveridge, als Struktur zum Schutz des Einzelnen "von der Wiege bis zur Bahre" beschrieben. Das Konzept setzte sich in allen westeuropäischen Ländern durch, wobei lokale Traditionen und politische Gegebenheiten seine vielfältigen Ausformungen bestimmten. Ab den 1960er-Jahren war das gesamte demokratische Europa sozialdemokratisch - eine Kombination aus freien Märkten und sozialer Absicherung für die breite Masse.

Dieses europäische Modell war erfolgreicher, als man sich dies in den kühnsten Träumen vorgestellt hatte. Über Jahrzehnte wurde Europa dafür weltweit beneidet, mehr als der amerikanische "Wild-West-Kapitalismus" oder der sowjetische Staatssozialismus. Die Sozialdemokratie, so schien es, bot das Beste aus zwei Welten - ökonomische Effizienz und soziale Gerechtigkeit.

Es gab immer auch nagende Zweifel am Wohlfahrtsstaat, vor allem ab der Ankunft der Globalisierung in Europa in den 1980er-Jahren. Beeinträchtigt durch die damit verbundenen finanziellen Kosten - und vielleicht auch durch die psychologischen und finanziellen Negativ-Anreize - verlangsamte sich Europas Wachstum. Die Pro-Kopf-Einkommen stagnierten, und hohe Arbeitslosigkeit stand fortan auf der Tagesordnung.

Den europäischen Verfechtern des freien Markts gelang es nie, den Wohlfahrtsstaat zurückzudrängen. Sogar Margaret Thatcher scheiterte an der Umstrukturierung des staatlichen britischen Gesundheitsdienstes. Bestenfalls wurde, wie in Schweden oder Dänemark, der Wohlfahrtsstaat nicht weiter ausgebaut.

Der Wohlfahrtsstaat widerstand seinen Kritikern und der schmerzlichen wirtschaftlichen Stagnation, indem er sich die Unterstützung der Mittelschicht sicherte. Das politische Genie seiner Architekten bestand in der Einsicht, dass die Mittelschicht noch mehr davon profitieren würde als die Armen.

Man denke an die Leistungen im Gesundheitswesen. In Frankreich sind die Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit in der Mittelschicht höher als bei den ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung. Somit sind die Durchschnittsverdiener die eigentlichen Netto-Nutznießer des nationalen Gesundheitswesens.

Kein Geld für die Armen

Tatsächlich scheint sogar der schlankere US-Wohlfahrtsstaat mehr auf die Mittelschicht als auf Arme ausgerichtet zu sein, wobei die einkommensbezogene Lohnbeihilfe "Earned Income Tax Credit" die größte Ausgabe darstellt. Jedes Jahr bekommen 24 Millionen amerikanische Mittelschichtfamilien eine Rückvergütung durch das Finanzamt. Diejenigen, die unter der Armutsgrenze leben, erhalten Sachleistungen. Amerikas Wohlfahrtsstaat bedeutet also Bares für die Mittelschicht und Sozialprogramme für die Armen. Dieses diskriminierende Muster ist auch in Westeuropa zu finden.

Osborne startet seinen Angriff auf den britischen Wohlfahrtsstaat über das Kindergeld, das alle Familien mit Kindern ungeachtet ihres Einkommens erhalten. Dieses allgemeine Kindergeld wurde fast in ganz Westeuropa eingeführt, um die Bevölkerung in den durch den Zweiten Weltkrieg schwer beschädigten Ländern zu ermuntern, Kinder zu bekommen.

In Großbritannien gehen 42 Prozent des Kindergeldes an Familien der Mittelschicht und Reiche - in Frankreich ebenso. Osborne schlägt nun vor, Zahlungen an Familien in der höchsten Steuerklasse einzustellen. Am Ende der Reform steht wohl der Umbau des gesamten Sozialsystems, indem man alle Leistungen für die Mittel- und Oberschicht reduziert.

Die Ersparnisse, die Osbornes Vorschlag bringen könnte (1,6 Milliarden Pfund), sind nur ein Bruchteil der jährlichen britischen Sozialausgaben von 310 Milliarden Pfund. Aber durch die Abschaffung des Anspruchs hofft die Regierung von Premier David Cameron, den Briten die Ungerechtigkeit des Wohlfahrtssystems vor Augen zu führen.

Alle Regierungen in Europa werden die Schwachstelle im Sozialsystem aufbrechen müssen, jene Stelle, für die die Menschen am meisten Verständnis aufbringen. In diesem Sinne geht die Pariser Regierung gegen die üppigen Pensionsleistungen für französische Beamte vor. Überdies will man das gesetzliche Pensionsalter von 62 auf 65 Jahre anheben.

Starker Widerstand

Es ist wohl für jeden verständlich, dass Kindergeld für die Reichen oder ein Pensionsalter von 62 Jahren nicht zu rechtfertigen ist. Doch der Widerstand der Bevölkerung gegen diese Einschnitte ist stärker als erwartet. Intuitiv begreift die Mittelschicht, dass eine ganze Ära zu Ende geht.

Werden Camerons Regierung - und alle anderen, die diesem Weg folgen - vor dem Zorn der Mittelschicht in die Knie gehen? Bis zu einem gewissen Grad haben die Regierungen keine andere Wahl, als gegen die Ansprüche der Mittelschicht vorzugehen. Die durch nutzlose keynesianische Staatsausgaben verschärfte Finanzkrise von 2008 brachte alle europäischen Staaten an den Rand des Bankrotts. Nur die USA können unbegrenzt ihre eigene Währung drucken und Schulden vergrößern.

Den europäischen Staaten bleibt nichts anderes übrig, als ihre Ausgaben zu senken. Die Verringerung von Sozialleistungen, die in Europa im Schnitt die Hälfte der öffentlichen Ausgaben ausmachen, ist der leichteste Weg zur Budgetsanierung. Der Wohlfahrtsstaat wird nicht verschwinden, aber er wird schrumpfen - und sich auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren.

Nimmt man die Arbeitslosigkeit als maßgebliches Kriterium, hat der europäische Wohlfahrtsstaat zwar der Mittelschicht ein Sicherheitsnetz beschert, aber das schwächste Zehntel der Gesellschaft in ständiger Abhängigkeit gehalten. Fünfundsechzig Jahre, nachdem Lord Beveridge dem Staat die Verantwortung für uns von der Wiege bis zur Bahre anvertraute, bitten uns Cameron und Osborne nun, mehr oder weniger auf eigenen Beinen zu stehen. (
Guy Sorman