Foto: Tsalikoglou

Ein Land steckt in der Depression. Die griechische Psychologin Fotini Tsalikoglou versucht die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Gemüter ihrer Landsleute zu erklären. Markus Bernath hat die Sparkurskritikerin in Athen getroffen.

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STANDARD: Wie geht es den Griechen mit ihrer Wirtschafts- und Finanzkrise?

Tsalikoglou: Reden wir über die griechische Gesellschaft als Ganzes. Ich spüre, dass die geistige Gesundheit in dieser Zeit der schweren Krise, die nicht nur wirtschaftlich ist, sondern psychisch wird, gefährdet ist. Sehr verschiedene Gesellschaftsgruppen, sogar jene, denen es noch gut geht, haben Angst, etwas zu verlieren. Es gibt jetzt eine allgemeine Furcht der Griechen vor dem nächsten Tag. Diese Furcht ist ein wenig irrational, es ist ja nicht logisch, Angst zu haben, dass man gleich alles verliert.

STANDARD: Beschreiben Sie diese Angst vor dem Verlust ein bisschen näher.

Tsalikoglou: Die Angst vor dem Verlust ist immer das zentrale Stück der Depression. Es kann um einen wirklichen Verlust gehen oder um einen symbolischen oder einen eingebildeten. Die Depression, so lehrt uns die Psychologie, steht jedenfalls in Verbindung mit dem Verlust. Wir waren eine Gesellschaft, die sich wie ein Baby im Mythos des Überflusses gewiegt hat, in der Idee, dass einfach alles gut ginge. 20, 30 Jahre haben wir so gelebt.

Wir sind in der Euphorie geschwommen wie in einem Meer. Das war nicht real. Der Augenblick musste kommen, wo alles das zerplatzen würde. Weil dieser Bruch aber so plötzlich kam, ist die Angst nur noch größer geworden. Griechenland steckt jetzt noch in einem Zustand der Entschlusslosigkeit.

STANDARD: Es gibt Gewerkschaftsführer in Griechenland, die sagen, sie hätten jetzt nichts mehr zu verlieren, und die damit Blockaden und Besetzungen rechtfertigen.

Tsalikoglou: Ja, aber man spricht hier jetzt auch schon von der 400-Euro-Generation. Vor zwei Jahren war es die 700-Euro-Generation, und jeder hat gesagt, das sei unannehmbar. Wir haben gedacht, neun Prozent Arbeitslosigkeit sind viel, aber jetzt sind wird schon bei über elf Prozent, und unter den Jugendlichen bei 25 Prozent. Wir sollten eine Chance zum Leben ohne diese fundamentale Angst haben.

STANDARD: Diese Probleme der Arbeitslosigkeit gibt es mehr oder minder überall auf der Welt. Warum also diese Angst in Griechenland?

Tsalikoglou: Vielleicht muss man die Antwort in den Besonderheiten der griechischen Gesellschaft suchen. In unserem Land gibt es ein Paradox. Wir gehören zu den ärmeren Ländern der Europäischen Union, gleichzeitig haben wir die geringste Selbstmordrate. Wie lässt sich das erklären? Man muss die Rolle der Familie in unserer Gesellschaft berücksichtigen.

Die sozialen Netze rund um die Familie sind sehr stark. Die Familie lässt ihre Mitglieder nicht fallen. Wir sind auch unter den letzten Ländern, die ihre Großeltern in Altersheime schicken würden. Wenn also eine solche Gesellschaft erschüttert wird, dann ist das Trauma vielleicht noch stärker. Die Idee des Schutzes, die jeder hat, ist erschüttert.

STANDARD: Man könnte sich ja vorstellen, dass die griechische Gesellschaft mit dieser Wirtschaftskrise zugleich ein gemeinsames Projekt hat: zusammen aus der Krise herausarbeiten, sich gemeinsam für dieses Ziel engagieren.

Tsalikoglou: Das ist die optimistische Sicht der Dinge. Ein Teil der Leute sagt, dass aus dieser Krise etwas Gutes herauskommt. Wir würden bessere Menschen werden, weniger am reinen Konsum orientiert, mit mehr Bodenhaftung. Das hört sich gut an. Aber ich glaube nicht, dass man sich unter Androhung der Todesstrafe verbessern kann, mit einem Revolver, der auf die Stirn gerichtet ist.

Wir sind eben so: Wenn der nächste Tag, wenn die Zukunft nicht gesichert ist, können wir keine besseren Menschen werden. Menschliche Reife entsteht nicht unter Gewalt. Sie ist die Folge eines Prozesses, einer Überlegung. (Markus Bernath, DER STANDARD, Printausgabe, 18.10.2010)