Andrés Orozco-Estrada: tänzerische Eleganz.

Foto: Werner Kmetitsch

Wien - Standing Ovations gab es am Samstag im Musikverein gleich zweimal. Ansonsten hatten die beiden Orchesterkonzerte am Nachmittag und Abend nur wenig miteinander gemein - einmal abgesehen davon, dass beide auf ihre Weise großartig waren. Aber schon die Atmosphäre im Goldenen Saal - von den Parfumwolken bis zu den Nuancen des Beifalls - führte die Unterschiede vor (fast) alle Sinne.

Die intakte Musiktradition der Wiener Philharmoniker, die im 19. Jahrhundert ihre Wurzeln hat, war auch in ihrem ersten Abonnementkonzert der Saison 2010/11 zu verspüren - ebenso wie im ersten Zykluskonzert des Concentus Musicus jene Unbotmäßigkeit durchschien, mit der Nikolaus Harnoncourt einst gegen solche Traditionen angetreten war.

Schon dass der einstige Revoluzzer inzwischen aufs Schönste mit den Wiener Gralshütern der Musik zusammenarbeitet, zeigt, dass solche Fronten heute aufgeweicht sind. Doch es gibt noch immer (auch publikumssoziologisch) so etwas wie zwei Kulturen, die nun friedlich koexistieren. Im Rahmen der Erstgenannten wurde am Samstag ein Neuling initiiert: Andrés Orozco-Estrada, Einspringer für Esa-Pekka Salonen (der selbst bereits Ersatz für Seiji Ozawa gewesen wäre), war 2004 schon einmal bei den Tonkünstlern in derselben Situation und ist heute deren Chefdirigent.

Man braucht sein jetziges Debüt mit den Philharmonikern gar nicht als Sensation zu feiern, wie das vor sechs Jahren der Fall war, um seine Qualitäten zu würdigen. Große Gesten sind dem Kolumbianer, der an der Wiener Musikuniversität ausgebildet wurde, ebenso fremd wie jede Form der Übertreibung. Dafür verbindet er perfektes Handwerk mit einem Temperament, das er fein abzustufen und zu dosieren weiß.

Seine Kunst, bei schier unendlich langen Phrasen die Spannung aufrechtzuhalten, zeigte er etwa in Mendelssohn Bartholdys Ouvertüre Meeresstille und glückliche Fahrt. Waren hier eine Handvoll Einsätze nicht völlig zusammen, herrschte ansonsten größte Genauigkeit.

Wagners Vorspiel und Liebestod aus Tristan und Isolde zelebrierte Orozco-Estrada mit Klarheit und glühender Kantabilität, Dvoøaks 7. Symphonie mit tänzerischer Eleganz und feinem Gespür für kleinste Verzögerungen, zugleich atmend und mit straffer Dramatik.

Zwei Stunden später im selben Raum war der Tonfall ein vollkommen anderer. Harnoncourt gab Bachs h-Moll-Messe in ihrer Gesamtheit den Eindruck erratischer Statik, im Kleinen artikulierte der Concentus freilich belebt wie eh und je, während das hochkarätige Solistenquintett (Genia Kühmeier, Elisabeth von Magnus, Bernarda Fink, Michael Schade und Florian Boesch) teils an Stellen zum Einsatz kam, die ansonsten der Chor singt.

Dem Schoenberg Chor blieb freilich immer noch genügend Gelegenheit, mit schlanker Wendigkeit zu glänzen und mit den Instrumenten zu verschmelzen. Andererseits: Wo sich seine Linien verselbstständigen, erklang noch der dichteste polyphone Satz mit beispielloser Transparenz. (Daniel Ender/DER STANDARD, Printausgabe, 18.10. 2010)

 

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