Wien - Der pensionierte Präsident des Obersten Gerichtshofs, Johann Rzeszut, erhebt schwere Vorwürfe gegen die mit dem Fall Natascha Kampusch betrauten Anklagebehörden. Er wirft diesen "konsequente Vernachlässigung entscheidender polizeilicher Ermittlungsergebnisse" und eine "langfristige Verzögerung bzw. bis zuletzt gänzliche Unterlassung nachhaltigst indizierter wesentlicher Ermittlungsschritte" vor.

Darüber hinaus wäre die vom Innenministerium eingesetzte Evaluierungskommission, die allfällige Versäumnisse bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit der entführten und achteinhalb Jahre gefangen gehaltenen Kampusch aufzeigen sollte, "wesentlich und langfristig" behindert worden, behauptet Rzeszut, der selbst dieser Kommission unter dem ehemaligen Verfassungsgerichtshof-Präsidenten Adamovich angehört hat. 

"Aus der Luft gegriffen"

Der Leiter der Staatsanwaltschaft Graz, Thomas Mühlbacher, bezeichnete die Vorwürfe als "völlig aus der Luft gegriffen". Anders als von Rzeszut behauptet sei kein Druck auf den Leiter der Soko Kampusch ausgeübt worden. "Was soll ich zu solchen Vorwürfen sagen?", so Mühlbacher. Jener Soko-Leiter, der sich später das Leben genommen habe, sei langjährig mit ihm bekannt gewesen, man habe das beste Einvernehmen gehabt, so der Leiter der Staatsanwaltschaft. Er wisse nicht, woher diese "schon gewaltigen Vorwürfe" kommen, Rzeszut habe ihn auch nie darauf angesprochen. Das Ganze sei ihm unverständlich, sagt Mühlbacher.

Rzeszuts "Sachverhaltsmitteilung zum staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren im Abgängigkeitsfall Natascha Kampusch" umfasst inklusive zahlreicher Beilagen 46 Seiten und liegt der APA vor. Am Donnerstag hat das Papier über Umwege auch das Justizministerium erreicht. "Es handelt sich um Vorwürfe strafrechtlicher Natur, die wir umgehend der Korruptionsstaatsanwaltschaft übermittelt haben", teilte die Sprecherin von Justizministerin Bandion-Ortner, Katharina Swoboda, mit. 

"Selbstmord als Verzweiflungstat zu verstehen"

Der Ex-OGH-Präsident lässt in seiner Sachverhaltsmitteilung aufhorchen, indem er behauptet, der Selbstmord des Leiters der beim Bundeskriminalamt eingerichteten Sonderkommission (Soko) Kampusch wäre "als Verzweiflungstat zu verstehen, die nicht unwesentlich durch eine unverständlich beharrliche Resistenz der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsleitung gegenüber sicherheitsbehördlichem Ermittlungsfortschritt entscheidend mitausgelöst wurde".

Der Chef-Ermittler hatte sich Ende Juni 2010 - und damit rund sechs Monate nach der Präsentation des Abschlussberichts der Evaluierungskommission und der folgenden endgültigen Einstellung der Ermittlungen im Fall Kampusch - auf seiner Terrasse in Graz erschossen.

Laut Rzeszut war der Beamte in den Monaten zuvor einer "sachlich nicht vertretbaren Druckausübung" ausgesetzt gewesen, indem man ihm im November 2009 "unmissverständlich" nahe gelegte habe, er möge den Ermittlungsakt schließen. Dieses Vorgehen, das Rzeszut vor allem dem damaligen Grazer Oberstaatsanwalt und nunmehrigen Leiter der Staatsanwaltschaft Graz, Thomas Mühlbacher, zuschreibt, der auf Initiative des Justizministeriums die Erhebungen rund um allfällige Mitwisser oder Komplizen des Kampusch-Entführers Wolfgang Priklopil übernommen hatte, sei für den Soko-Leiter und die Evaluierungskommission gleichermaßen überraschend gekommen, weil sich "kurz davor weiterer akzentuierter Aufklärungsbedarf ergeben hatte", so der pensionierte OGH-Präsident. 

Wie Rzeszut betont, sei der Ermittlungsabschluss aus staatsanwaltschaftlicher Sicht bereits am 20. November 2009 festgestanden und hätten die Behörden in weiterer Folge alles unternommen, dieses Ziel zu erreichen. Rzeszut behauptet in diesem Zusammenhang, das Zusammentreffen von Natascha Kampusch und einer ehemaligen Mitschülerin, die unmittelbar nach dem Verschwinden Kampuschs angegeben hatte, sie habe beobachtet, wie zwei Männer diese in einen Kastenwagen zerrten, sei von einer "völlig atypischen und krass einseitig-suggestiver Einflussnahme" auf die Zeugin gekennzeichnet und darauf ausgerichtet gewesen, "die langjährig konstanten Angaben dieser Zeugin über den Entführungskomplizen des Wolfgang Priklopil, die den staatsanwaltschaftlichen Einstellungsintentionen hinderlich entgegenstanden, zu beseitigen."

"Monatelange Selbstvorwürfe"

Der Soko-Leiter, den Rzeszut als besonders gewissenhaften Beamten beschreibt, sei damit seelisch nicht fertig geworden und habe sich "nach monatelangen Selbstvorwürfen" das Leben genommen, legt der pensionierte Spitzenjurist dar. Wie Rzeszut versichert, "kommen dafür ausschließlich dienstliche Gründe in Betracht, die mit dem angesprochenen Ermittlungsverfahren und dessen von staatsanwaltschaftlicher Seite in nicht nachvollziehbarer Weise gelenktem Abschluss zusammenhängen".

Der Ex-OGH-Präsident Johann Rzeszut hatte sein mit 29. September datiertes Schreiben ursprünglich an alle im Parlament vertretenen Parteien gerichtet. Er betont darin einleitend, es falle ihm "extrem schwer", seine Kritik in Worte zu fassen, "aber das Gewicht und die grundsätzliche Bedeutung der zum Entführungs- und Abgängigkeitsfall Natascha Kampusch im Bereich staatsanwaltschaftlicher Verantwortung praktizierten atypischen, sachlich nicht nachvollziehbaren Vorgangsweisen und die in diesem Zusammenhang leider gemachte Erfahrung, dass eine sachdienliche ressortinterne Abhilfe auch in oberster Ebene nicht zu erwirken war, machen es mir (...) zur Pflicht, (...) entsprechend zu informieren". (APA)