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Laut Bangert kann "gefühlte Armut schlimmer sein, als absolute Armut".

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Kurt Bangert leitet das Deutsche Institut für Armutsbekämpfung.

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Schon seit Jahrzehnten ist Kurt Bangert in der Entwicklungshilfe tätig und lebte mehrere Jahre auch in Krisengebieten rund um den Globus. Zurzeit ist er unter anderem Leiter des Deutschen Instituts für Armutsbekämpfung. derStandard.at bat den Experten anlässlich des Weltarmutstages zum Gespräch.

derStandard.at: Wie würden Sie Armut definieren?

Kurt Bangert: Es gibt die zwei großen Definitionen. Einmal die relative Armut, die wir in Europa anwenden. Ich kenne jetzt leider nur die Zahlen für Deutschland. Die wird so definiert, dass man bereits bei 60 Prozent des Mittleren Einkommens von einem Armutsrisiko spricht und bei 50 Prozent von arm. Das Durchschnittseinkommen in Deutschland beträgt zirka 1500 Euro. Das heißt, man ist mit 750 Euro bereits arm. Aber 750 Euro ist ein Betrag, von dem man noch leben kann. Im Gegensatz dazu steht die absolute Armut, von der wir weltweit sprechen und die mit einem Euro pro Tag berechnet wird. Davon sind etwa 1,4 Milliarden Menschen betroffen und die meisten haben nicht einmal diesen Euro. Deshalb muss man die relative und die absolute Armut als zwei unterschiedliche Phänomene betrachten.

derStandard.at: Das Thema einer Ihrer Vorträge heißt „Die Verantwortung Europas für die absolute Armut der Welt". Inwiefern ist Europa dafür verantwortlich?

Bangert: Weil Europa in erster Linie vorgibt, Solidarität für die Menschen innerhalb Europas zu haben. Aber es hat sich auch dazu verpflichtet, sich mit dem Rest der Welt solidarisch zu zeigen. Das bedeutet Demokratie zu fördern, Armut zu beseitigen, einen Ausgleich zu schaffen. Es liegt auch im Interesse Europas, Armut weltweit zu bekämpfen. Wenn wir Europäer es nicht machen, werden wir negative Folgen zu ertragen haben, wie hohen Immigrationsdruck.

derStandard.at: Wie wirkt sich Armut in etwa der Dritten Welt auf Europa aus?

Bangert: Wenn man die Armut hier in Europa unter die Lupe nimmt, dann hat diese im Wesentlichen zwei Gründe. Einmal der hausgemachte Grund der Arbeitslosigkeit. Wesentlich sind aber auch Gründe, die mit der Globalisierung zu tun haben - der Globalisierung des Marktes aber auch der Globalisierung der Arbeit. Dadurch, dass wir durch die Globalisierung alle enger zusammenrücken, können wir unsere Produktionsstätten nach China und sogar nach Nordkorea verlegen, um von den billigen Arbeitskräften zu profitieren. Das ist einerseits vorteilhaft für uns, weil wir billige Produkte einkaufen können, aber es ist von großem Nachteil für uns, weil wir dann auch hier unsere Produktionsstätten verlieren und billige Arbeit auch zu uns kommt. Vor allem aus Osteuropa. Das übt großen Druck aus.

derStandard.at: Die ganze Welt spricht zurzeit vom Klimawandel. Inwiefern hat der Klimawandel eine Auswirkung auf die Armut in der Welt?

Bangert: Der Klimawandel wurde zu 80 Prozent von den Menschen in den Industrienationen verursacht. Hat aber zu 80 Prozent Folgen für die Ärmsten dieser Welt. Die können sich weniger schützen. Das Beispiel des Hochwassers in den Niederlanden, wo man riesengroße Deiche bauen kann, das kann man sich vielleicht in Europa leisten, aber in Bangladesch oder in Burma nicht. Deshalb ist es auch eine zusätzliche Verpflichtung der Industrienationen, den Armen zu helfen in punkto Anpassung an den Klimawandel. Dadurch können sie die Folgen besser ertragen, klimafreundlicher zu leben und eine klimaschonende Entwicklung zu fördern. Schließlich geht es auch darum, die ganzen Wälder zu bewahren, denn der Erhalt der Wälder ist die billigste Methode das Klima zu schonen.

derStandard.at: Es wird oft von den Erfolgen der Entwicklungshilfe gesprochen, zuletzt am Milleniumsgipfel in New York. Aber gibt es nicht auch Dinge, die bei all der Hilfe nicht funktionieren?

Bangert: Wir müssen unsere ganze Entwicklungshilfe besser koordinieren. Denn in vielen Fällen überfordern wir die Länder mit dem Überangebot von Gebern und Geberrepräsentanten. Ich habe gehört, dass man etwa in Tansania über 700 Besucher von Entwicklungsorganisationen hatte, dabei hatte die Regierung nichts anderes zu tun, als die zu bewirten und herumzuführen. Nach dem Motto: "A mission a day keeps development away." Auf der einen Seite versucht man, die Milleniumsziele der UNO zu erreichen, aber auf der anderen Seite macht man die positive Entwicklung durch die Subventionierung von Agrarprodukten in Europa wieder kaputt. Also links aufbauen und rechts wieder zerstören. Da muss sich was ändern.

derStandard.at: Sollte man nicht zuerst die Armut im eigenen Land bekämpfen, bevor man globale Hilfe leistet?

Bangert: Die Armut sollte man immer zuerst in der Nachbarschaft bekämpfen, aber im Zeitalter der Globalisierung rücken uns auch die armen Länder immer näher. Das merken wir daran, wie viele nach Europa flüchten und versuchen, hier ihr Wohl zu finden. Insofern bedarf es riesengroßer Anstrengung, um den Wohlstand weltweit gerechter zu verteilen. Soziale Gerechtigkeit kann sich nicht nur auf unser eigenes Land beschränken, sondern muss mehr und mehr global gesehen werden.

derStandard.at: Stichwort Armutsbekämpfung im eigenen Land. Reicht das Arbeitslosengeld ihrer Meinung nach überhaupt, um über der Armutsgrenze zu bleiben?

Bangert: Ein Unterschied zwischen dieser relativen Armut bei uns und der absoluten Armut in vielen Entwicklungsländern ist ja auch, dass, wenn alle um mich herum gleichermaßen arm sind, kann man die Armut noch eher ertragen, als wenn ich ständig vor Augen geführt bekomme, dass alle um mich herum viel wohlhabender sind. Das ist dann eine gefühlte Armut, die auch sehr schmerzt. Diese Ausgrenzung und diese mangelnde Integration in die Gesellschaft und das fehlende Teilnehmen am Leben, das kann auch sehr verletzend sein. Unabhängig davon, ob man sich vom Arbeitslosengeld ernähren kann. Diese gefühlte Armut ist vielleicht hierzulande sogar schmerzhafter als die absolute Armut in Afrika. (bbl, derStandard.at, 15. 10. 2010)