Kurt Fuchs fand sich auch nach 74 Jahren Abwesenheit in seiner Geburtsstadt sofort wieder zurecht.

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Die Familie Fuchs in Belgien: Kurt (ganz links) mit seinen beiden Schwestern und seinem Vater.

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Heute lebt Fuchs in Australien. Auf dem Bild ist er mit seinem Enkel Ben Weiss in Wellington, Neuseeland, zu sehen.

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Am jüdischen Gemeindezentrum wurde am 11. Oktober 2010 eine Gedenktafel für Fuchs' Vater und seine Schwester angebracht, beide wurden im KZ ermordet.

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"Ich habe Wien nie vergessen", sagt Kurt Fuchs und macht eine kurze Pause. "Immerhin bin ich hier aufgewachsen und hier haben wir noch als Familie gelebt." Fuchs ist mittlerweile 85 Jahre alt, lebt in Sydney und hat seine Geburtsstadt im Alter von dreizehn Jahren verlassen. Aber nicht weil er wollte, sondern weil er musste. Kurt Fuchs ist Jude und flüchtete mit seiner Familie vor dem nationalsozialistischen Regime und der Verfolgung. Jetzt, nach 71 Jahren, kehrte er zurück.

Dabei hatte der alte Mann mit den lachenden Augen vor, nie wieder einen Fuß in die Stadt zu setzen: "Ich hatte Angst vor den Erinnerungen und den Eindrücken." Seine frühe Kindheit beschreibt Fuchs aber als "glücklich". Er wuchs im 15. Wiener Gemeindebezirk auf, spielte auf dem Meiselmarkt mit Freunden Fußball und ging im Winter auf der Schmelz Eislaufen.

"Nicht sehr religiös"

Zwar wäre es schon immer so gewesen, dass ihn Klassenkameraden im Streit mit "Jud', Jud', sag der Mutter es ist gut" gehänselt hätten, doch definierte er sich nie durch das Judentum. "Wir waren nicht sehr religiös. Zwar besuchten wir an Feiertagen den Tempel, aber wir feierten auch Weihnachten", erzählt der 85-Jährige. Als 1938 jedoch die Nazis in Österreich einmarschierten und die Ostmark ausriefen, begann die Judenfeindlichkeit deutlicher zu werden.

Flucht nach Belgien

"Wir mussten die Schule wechseln und wurden auf dem Weg hin und zurück gehänselt und beschimpft", erinnert sich Fuchs. Daraufhin hätte sein Vater beschlossen, die Kinder zu Hause zu behalten: Die Flucht nach Belgien war bereits geplant. Mit einem Schlepper flüchtete der Vater mit Kurt und seinen zwei Schwestern über die Grenze: "Wir hatten die ganze Zeit Angst." Doch auch in Belgien war die Familie nicht sicher, denn 1940 marschierten die Nazis auch in den neutralen Staat ein und ab 1941 musste der Judenstern deutlich sichtbar getragen werden.

Abtransport nach Auschwitz

Am 16. Oktober 1942 klopfte es schließlich an der Tür: Gestapo-Beamte in Zivilkleidung waren gekommen, um die Familie abzuholen. Die jüngste Schwester war zum Glück zu dem Zeitpunkt nicht zu Hause und wurde von Nachbarn gewarnt, sie konnte sich verstecken. Der damals 16-jährigen Kurt, seine Schwester Edith und sein Vater jedoch wurden mit Viehwaggonen nach Auschwitz deportiert: "Was man dort zu sehen bekommen hat, war für einen normalen Menschen unfassbar. Was die Augen sahen, konnte das Hirn nicht verarbeiten."

Gleich in den ersten Minuten in Auschwitz wurde die Familie auseinandergerissen. Schwester Edith kam in die Reihe zu den Frauen und Kindern, Kurt in die linke Reihe zu den jungen Männern und der Vater wurde der rechten Seite mit den älteren Herren zugewiesen. "Der SS-Mann hat nur mit dem Daumen gedeutet, wo die Leute hinsollen", erzählt Kurt Fuchs. Schon damals hätte er gewusst, dass diese Aussortierung nichts Gutes bedeutet. Später hat er erfahren, dass die rechte Reihe direkt in die Gaskammer marschiert ist.

Die Chancen, Auschwitz zu überleben

Am nächsten Tag hätte Fuchs dann "die erste Chance" aufs Überleben bekommen, erinnert er sich heute. Gemeinsam mit etwa 200 anderen Neuankömmlingen sei er für das Arbeitslager Jawischowitz eingeteilt worden. Zwar wartete nun körperliche Arbeit bis zum Zusammenbruch in der Kohlengrube auf ihn, doch er entrann der unmittelbaren Gefahr der Gaskammer.

Seine "zweite Chance", das KZ lebend zu überstehen, war sein Freund aus Belgien, Ludwig Weinber, den er in Auschwitz wiedertraf. Nach wenigen Wochen schon verlor Fuchs seinen Willen zu leben und wollte das wenige Essen verweigern. Daraufhin hätte ihm Weinber "eine Ohrfeige gegeben" und gesagt: "Friss! Wir kommen hier lebendig wieder raus!"

Das Ende 1945

Und tatsächlich, nach zweieinhalb Jahren Unmenschlichkeit tönte am 11. April 1945 aus allen Lautsprechern des Lagers Buchenwald, in dem Fuchs zuletzt gefangen war: "Alle Angehörigen der SS sollen sofort fliehen." Da hätte er gewusst, dass die Befreier da sind. Über den Hügel habe er schon die amerikanischen Panzer rollen sehen und die Schüsse hören können. "Der erste US-Soldat, der ins Lager kam, wurde auf den Schultern getragen und wie ein Held gefeiert", erzählt Fuchs. Dann hätten die GIs die riesigen Leichenberge gesehen und wären nur noch schockiert gewesen. 

"Es haben alle gewusst"

Der US-Kommandant bat in den darauffolgenden Tagen die in der Umgebung wohnende Bevölkerung ins Lager, um sich das Grauen anzusehen. Dabei habe der Amerikaner sarkastisch gesagt: "In unserem unzivilisierten Amerika verwenden wir Meerschweinchen für medizinische Experimente, in eurem zivilisierten Deutschland verwendet man Menschen."

Die Leichenberge hätten mit Bulldozern weggeschafft werden müssen und die deutschen Zivilisten hätten sich überrascht gezeigt, dass es solche Lager gab. "Dabei mussten sie es alle gewusst haben. Immerhin haben uns die Nazis völlig heruntergekommen und abgemagert durch Weimar getrieben", sagt Fuchs.

Bei seiner Befreiung wog Kurt Fuchs nur 40 Kilogramm. Die Amerikaner hätten den halb verhungerten Menschen Proviant von den umliegenden Bauernhöfen mitgebracht. "Das war aber ein Fehler, unsere Körper waren das fette Essen ja nicht mehr gewöhnt. Viele bekamen Durchfall und wurden noch magerer", erinnert sich Fuchs. Auch er selbst wurde krank und bekam Typhus, "zum Glück erst nach dem KZ - drinnen wäre das mein Todesurteil gewesen."

Neues Leben in Neuseeland

Fuchs war nach der Genesung 19 Jahre alt und reiste sofort nach Belgien, wo seine Halbbrüder und seine kleine Schwester sich versteckt hielten. Seine Mutter hatte den Krieg in Großbritannien überlebt, wohin sie 1938 flüchtete und als Köchin arbeitete. Als sie krank wurde, zog Kurt nach England und pflegte sie, bis er durch seinen Bruder ein Visum für Neuseeland bekam, wo er dann 37 Jahre lebte und seine Familie gründete. 1985 zog es Fuchs schließlich nach Australien.

Frieden mit Wien

Mittlerweile verfolgt ihn die schreckliche Zeit in Europa nicht mehr. "Ich habe es nicht vergessen, aber nun als alter Mann kann ich verstehen, wie das alles zustande gekommen ist und ich konnte ja doch nichts daran ändern", sagt Fuchs. Mit Wien habe er nun wieder seinen Frieden geschlossen, die junge Generation in Österreich könne nichts für den Nationalsozialismus. Seiner Meinung nach hätte diese sogar begonnen Gräueltaten aufzuarbeiten. "Da ist in Österreich bis vor ein paar Jahren nicht viel passiert", sagt der 85-Jährige. Am 11. Oktober 2010 wurde nun auch an seinem ehemaligen Elternhaus eine Gedenktafel für seinen Vater und seine Schwester angebracht, die in der Gaskammer ermordet wurden.

Sein Vater sei immer der Ansicht gewesen, dass er den Untergang Adolf Hitlers noch mit ansehen würde. "Er hat es leider nicht geschafft, aber ich habe den Fall des Dritten Reichs durch meine Augen für ihn gesehen", sagt der Auschwitzüberlebende. Und auch seine Geburtsstadt will er nicht zum letzten Mal gesehen haben: "Ich komme nächstes Jahr wieder, das spüre ich." (Bianca Blei, derStandard.at, 14. 10. 2010)