Auch die US-amerikanische Objektkünstlerin Judith Scott ist eine "Weltenwandlerin".

 

Foto: Norbert Miguletz

Etwas mehr als einhundert Jahre ist es her, dass im Jahr 1907 L'art chez des fous des französischen Psychiaters Paul Meunier erschien. Unter Pseudonym brachte er seine Untersuchung heraus, die reißenden Absatz fand und rasch nachgedruckt wurde.

Der Mediziner sah die Kunst all jener Menschen, deren Benehmen vom konventionellen Verhaltenskodex abwich, die man gemeinhin als verrückt und nicht normal einstufte, nicht nur durch eine medizinische Brille. Sondern er setzte tiefer an. Er wollte, wie er schrieb, "einen aufschlussreichen Einblick in die inneren Bedingungen des Entstehens schöpferischer Kräfte liefern, die sie auf einer frühen Entwicklungsstufe zeigen".

Vier Jahre später brachte der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler den Begriff "Schizophrenie" in Umlauf. Und 1922 publizierte der Heidelberger Psychiater Hans Prinzhorn, dessen Kunstsammlung heute in der Universitätsstadt am Neckar ein Schattendasein führt, seine bahnbrechende Monografie Bildnerei der Geisteskranken. Sie ist seither mehrfach wieder aufgelegt worden, zuletzt mit einem Essay von Gerhard Roth. Der österreichische Autor setzt sich seit seinen schriftstellerischen Anfängen mit Schizophrenie, abweichendem Verhalten und psychischen Störungen auseinander.

Und so verwundert es nicht, Roth durch die Frankfurter Ausstellung über Outsider-Art flanieren zu sehen. Und das Filmporträt über August Walla, den er persönlich kannte, kundig zu kommentieren: etwa, dass Wallas Zimmerbox am Ende der Schau nur ein winziger Ausschnitt dessen sei, was Walla im Haus der Künstler zu Gugging schuf.

In den 1970er-Jahren hatte sich der Terminus "Outsider Art" gefestigt. Zustandsgebundene Kunst entwickelte sich im Zuge der Antipsychiatriebewegung, die wiederum von Büchern Michel Foucault flankiert wurde. Inspiriert vom Surrealismus hatte der Maler Jean Dubuffet schon 1940 begonnen, diese Außenseiterkunst zu sammeln. Dubuffet prägte dafür den romantisierenden Begriff Art brut. Einige seiner Künstler - Adolf Wölfli, Aloïse, Auguste Forestier - sind auch in der großartigen Schau in der Kunsthalle Schirn zu sehen.

Die zentrale, eher hohe als breite Halle haben der Architekt Karsten Weber sowie die Kuratoren Max Hollein und Martina Weinhart klug unterteilt. Die 13 Künstlerinnen und Künstler - geboren zwischen 1860 und 1966 - werden in Kojen präsentiert. Sie sind offen genug, um Ausblicke nach links und rechts zu ermöglichen. Zugleich aber auch abgeschlossen genug, um die separaten Wahrnehmungen und individuellen Kunstwelten abzuschotten: Judith Scotts Wollobjekte etwa; oder die Obsessionsobjekte des Schnitzers Karl Junker; die Technikschrottobjekte des Künstlerpaares A.C.M.; oder die suggestiven Gemälde von Friedrich Schröder Sonnenstern.

Vom Austarieren der Welt

Im Durchblick erinnern die Einbauten an Gehirnwindungen, was gar nicht so abwegig ist, geht es doch um das Austarieren der Welt jenseits des zerebral Normalen: Emery Blagdons Healing Machines, die angeblich Krebs heilen, ebenso wie bei der Engländerin Madge Gill, deren innere Stimmen sie zur Zeichnerin machten. Adolf Wölflis Riesenblätter scheinen wie die Nachtseite der Richard Wagner'schen Idee vom Gesamtkunstwerk: ebenso wie auch jene von Georg Widener. Der 48-jährige Asperger-Patient ist von Nummerierungen besessen.

Die Arbeiten handeln von Übersicht, Schöpfung, aktiver Wiederherstellung, Ordnung. Um die Ordnung der Kindheit und die Abwehr der Kindheitsschrecken, wie sie etwa Henry Darger (1892- 1973) beschwor. Seine erschreckenden Mädchenaquarelle und ein mehr als 15.000 Seiten umfassendes Manuskript entpuppen sich als Vorläufer des seelenverschlingenden Horrorfilms.

"Selbstmörder durch die Gesellschaft" untertitelte Antonin Artaud sein Buch über Vincent van Gogh. Nicht der Mensch sei verrückt, schrieb Artaud, der selber psychiatrisch interniert war, "sondern die Welt ist abnormal geworden".

Nur zehn Gehminuten entfernt von der instruktiven, beeindruckenden Schau in der Schirn ist übrigens die Deutsche Börse. (Alexander Kluy aus Frankfurt / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.10.2010)