"Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus - Das Beispiel der Universität Wien", herausgegeben von Mitchell G. Ash, Wolfram Niess und Ramon Pils, Vienna University Press, 587 Seiten, 67,90 Euro.

Buchpräsentation: 21. Oktober 2010, 18.00 Uhr, Aula, Altes AKH, 9., Spitalgasse 2-4, Hof 1.

Coverfoto: Vienna University Press

Wien - Die Auswirkungen der Flucht von Tausenden Wissenschaftern und Intellektuellen vor den Nazis aus Österreich sind spätestens seit der Arbeit des Historikers Friedrich Stadler über "Vertriebene Vernunft" bekannt. Bis heute steht aber ein systematischer Vergleich aus, wie sich der "Verlust geistiger und menschlicher Potenz in den verschiedenen Disziplinen mittel- und längerfristig ausgewirkt hat", bemängelt der Historiker Mitchell Ash in dem neuen, von ihm mit herausgegebenen Buch "Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus - Das Beispiel der Universität Wien". Damit liegt nun zwar noch keine Gesamtzusammenfassung der Entwicklung der Geisteswissenschaften in dieser Zeit und danach vor, aber immerhin ein Kompendium verschiedener aktueller Forschungsarbeiten über die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich.

Die Machtübernahme der Nazis und das Verhalten der Universität in dieser Zeit habe "verheerende Konsequenzen für die Institution und die Wissenschaft" gehabt, erinnert der Rektor der Uni Wien, Georg Winckler, in seinem Vorwort zu dem Buch. Die negativen Folgen der Vertreibung könnten bis heute kaum bemessen werden. In den Jahren 1938 bis 1945 seien 45 Prozent der Professoren und Dozenten aus politischen und "rassischen" Gründen entlassen, zahlreiche Studierende vertrieben worden.

Einblicke

Auch ein wesentlicher Teil der "Pionierinnen weiblicher akademischer Exzellenz" sei vom Nationalsozialismus vertrieben bzw. ermordet worden, erinnert die Zeithistorikerin Doris Ingrisch in ihrer im Buch veröffentlichten Arbeit über "Weibliche Exzellenz und Nationalsozialismus". Diese Zäsur sei in hohem Maß auch dafür verantwortlich, "dass es nicht-vertriebene Wissenschaftlerinnen waren, die ab Mitte der 1950er Jahre als erste ordentliche Professorinnen in die Geschichte der Uni Wien eingingen". Für die in der Zeit nach dem Nationalsozialismus und besonders in den 1970er und 1980er Jahren studierenden Frauen sei damit nur mehr ein sehr spezifischer Teil der weiblichen Tradition und weiblicher intellektueller Kultur als Rollenmodelle zur Verfügung gestanden, so Ingrisch.

In autobiographischen Erzählungen von Frauen an der Uni, so Ingrisch, habe der Nationalsozialismus und die Verfolgung von Lehrenden und Studierenden tendenziell "keinen beziehungsweise nur auf dezidierte Nachfrage hin" eine Rolle gespielt. Die Möglichkeiten für einen Einstieg von Frauen in den Universitätsbetrieb haben sich jedenfalls nicht nur durch den Zweiten Weltkrieg erhöht, sondern auch durch die Folge der Vertreibung von Verfolgten durch das NS-Regime, wie es das Zitat einer anonymen, zum Kreis der ersten Professorinnen an der Uni Wien zählenden Frau zeigt: "Der traurige Krieg! Aber für mich war er eine Chance." (apa)