"Ruf der Wildnis": Benny Claessens (mit Wolfskopf), umringt von den Hunden Jessy, Theresa und Karlotta.

Foto: Monika Pormale

"Hotel Savoy" und "Ruf der Wildnis" verheißen nur Gutes.

Die Initialen der Münchner Kammerspiele leuchten dick von einer gläsernen Traverse in der Falkenbergstraße auf die Maximilianstraße. Sie lotsen die Zuschauer zur neuen, im hinteren Teil der Straße gelegenen Spielhalle, in der Johan Simons zum Auftakt seiner Münchner Intendanz zunächst mit Joseph Roths Hotel Savoy die Bude zu erwärmen suchte. Ein sympathisches Housewarming war das, und es machte offensichtlich, wie dringend jene Theaterformen, die aus der sogenannten freien Szene in die Staatshäuser hineinwachsen, auch nach neuen Räumen verlangen.

Ähnlich wie das Kasino des Wiener Burgtheaters ist diese Münchner Spielhalle das variable Gefüge eines offenen Raumes, in dem es, wenn es sein muss, auch Dolby Surround spielt. Und so war es auch. Das von Bühnenbildner Bert Neumann heruntergerockte Hotel Savoy aus Joseph Roths gleichnamigem Roman umfängt seine Bewohner nach Ende des Ersten Weltkriegs mit schwelenden Tönen. Und es wäre nicht Bert Neumann, käme hier nicht das Trugbild des Glamours ganz offen zum Vorschein.

Mit Fliesen werfen

Die orientalischen Keramikfliesen, die den langen, die Zuschauertribünen teilenden Bühnensteg pflastern, gehen bei jedem Tritt der Schauspieler noch mehr aus den Fugen, und das Treppengelände des irgendwo in Osteuropa (Lodz) angesiedelten Hotels besteht aus Fichtenrohlingen, die auch schon ein wenig wackeln. Und wenn der Erzählfigur des Romans, dem Kriegsheimkehrer Gabriel Dan (Steven Scharf), die Frage, wie und wo es nach dem Krieg mit allem weitergehen soll, einmal zu viel wird, dann steht eine bereits zerschossene Ziegelwand parat, auf die er mit kaputten Fliesen losballert.

Johan Simons erweckt das Roth'sche Katastrophenjahrhundert (siehe auch sein Hiob bei den Wiener Festwochen 2008) mit Varieté-Figuren zum Leben. Sie sehen mal mehr wie Louis de Funès aus (Stefan Merki u. a. als Phöbus Böhlaug) oder wie mechanische Spielpuppen (Brigitte Hobmeier) oder wie ein tragischer Hau-den-Lukas (Wolfgang Pregler), der wild geworden und in ungeduldiger Erwartung der Revolution durch das Hotelfoyer rast.

Das Hotel als Wartehalle, als Beobachtungsstelle für gestrandete Existenzen ist ein nicht nur am Theater bewährtes Motiv. Und die Münchner Fassung (Text: Koen Tachelet) hat dieses Motiv auf besonders erhebende Weise eingelöst, vor allem Dank des Raumes, der das Publikum zu Passanten der Theaterfiguren macht und sie in die spröde Sinnlichkeit dieses imaginären Gebäudes spektakulär hineinzieht.

Anschluss an das Leben suchen auch die Protagonisten in Alvis Hermanis' Ruf der Wildnis, das am zweiten Tag des Eröffnungswochenendes die Guckkastenbühne des Haupthauses in eine Sofalandschaft verwandelte. Die Aufführung geht von Jack Londons Abenteuerklassiker Ruf der Wildnis aus, der vom kämpferischen Hund Buck erzählt, wie er auf den Goldgräberpfaden von Alaska sein Dasein unter Menschen fristet. Ein Tier als Held – auf der Bühne sind es gleich sechs.

Der lettische Regisseur Hermanis (Eine Familie, Akademietheater), der ein Herz für vollgeräumte Bühnen hat, begnügt sich in dieser Produktion mit sechs Sofas (Bühne: Rudolf Bekic), sechs Schauspielern und sechs Hunden. In Gemeinschaftsarbeit wurde der Stücktext recherchiert und verfasst. Er enthält vielleicht 20 Prozent Jack London, dafür aber 100 Prozent von der gefühlten Einsamkeit des heutigen Einzeltieres Mensch, dessen Rudel sich irgendwann aufgelöst hat.

In Ruf der Wildnis ertönen die Klagerufe, es verschwimmen die Daseinsformen zwischen Tier und Mensch, die Schauspieler verfallen in tierisches Geheul, zerfetzen die ihnen von einem mehr oder weniger schweren Leben untergejubelte Couchpolsterung, sodass die Schaumstofffetzchen wie Schneeflocken wirbeln. Schnee, den einst auch Jack Londons Buck ganz sinnlich kennengelernt hat.

Die sechs nebeneinanderstehenden Lebensgeschichten, die in zum Teil einmaligen Slapsticknummern aufgehen, sind vielstimmige Montagen, die einander auch überlagern und die vom geschiedenen Pensionisten bis hin zur liebeshungrigen jungen Lady ein nicht zuletzt physisch markantes Bild einer prekären Gesellschaft abgeben. Ruf der Wildnis ist ein aufregender Abend, der vor allem dank seiner phänomenalen Schauspieler (Kristof Van Boven!) zunehmend erblüht. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD – Printausgabe, 12. Oktober 2010)