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Der 1387 Meter lange Marmaray-Eisenbahntunnel ist das Herzstück der 76,3 Kilometer langen Eisenbahnstrecke von Halkali im europäischen Teil bis nach Gebze im asiatischen Teil Istanbuls.

Foto: AP/EPA/Bozoglu

Tunnelbau ist kaum kalkulierbar. Der Marmaray-Tunnel, die Eisenbahnröhre unter dem Bosporus, soll Istanbuls Verkehrsprobleme mildern. Er kommt mit fünf Jahren Verspätung und ist doppelt so teuer wie 2001 geplant.

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Es ist knapp fünf Uhr früh. In den bereits im Morgengrauen dicht gewebten Autolärm-Teppich, der über Istanbul hängt, mischen sich erste Muezzin-Rufe. Die Metropole am Bosporus erwacht. Zwei Stunden noch, dann kommt der Berufsverkehr auf Touren, und nichts geht mehr. Die teilweise steilen Straßen von Istanbuls sieben Hügeln abwärts zu Marmarameer und Bosporus werden hoffnungslos verstopft sein, wenn sich bis zu sechs Millionen Kraftfahrzeuge zu Blechschlangen formieren.

Fünf Stunden, sagt Hamid Akkus von der staatlichen Maut- und Straßengesellschaft KGM, kann es bei Schlechtwetter dauern, bis man mit dem Auto vom europäischen Westen in den asiatischen Osten der 15-Millionen-Stadt kommt. Das liegt vor allem an einem Engpass: Es gibt nur zwei Brücken zwischen den Kontinenten: die in den 1970er-Jahren gespannte Bosporus-Hängebrücke und die 1988 erbaute Sultan-Mehmet-Brücke. Sie werden täglich von bis zu 480.000 Fahrzeugen überquert. Kilometerlange Staus auf den Zubringerstraßen sind garantiert, insbesondere wenn hoher Seegang die Pendlerfähren und Wassertaxis stoppt.

Europa-Asien-Tunnel

Schnellverbindungen zum Arbeitsplatz sind für die 1,1 Millionen Menschen, die den Bosporus pro Tag überqueren, nicht in Sicht. Denn die 2004 gestartete Entlastungsoffensive, die 76,3 Kilometer lange Eisenbahnstrecke von Halkali im europäischen Teil bis nach Gebze (in Asien) mit ihrem Herzstück, dem 1387 Meter langen Marmaray-Eisenbahntunnel mehr als 50 Meter unter dem Meeresspiegel, stockt. Sie sollte im Kulturhauptstadtjahr 2010 Fahrt aufnehmen - und täglich 1,5 Mio. Passagiere mit Metro- und Intercity-Zügen befördern.

Dass der Fahrplan nicht hält, ist seit 2007 klar. Denn die Tunnelbauer waren bei den Grabungen für den unterirdischen Bahnhof in Yenikapi, einen Steinwurf vom Topkapi-Palast entfernt, auf den rund 6000 Jahre alten Hafen von Byzanz gestoßen. Kaum waren die Sensationsfunde - darunter 1000 Kerzenhalter, 142 Skelette, acht Boote, tausende Münzen - geborgen, der nächste Rückschlag: Anlagenbauer und Eisenbahnausrüster Alstom, Führer des japanisch-koreanisch-türkischen Marmaray-Konsortiums AMD, stieg aus dem von der Japan Bank for International Cooperation, Europäischer Investitionsbank EIB und Europäischer Entwicklungsbank finanzierten Projekt aus.

Am 7. Jänner 2011 will die federführende Consulter-Gemeinschaft Avrasyaconsult den Zuschlag für die Bahnausrüstung vergeben, kündigt Hüseyin Belkaya von Avrasyaconsult an. Er hofft, dass 2013 als Fertigstellungstermin hält. In einschlägigen Webforen ist freilich bereits von 2015 die Rede: „Es wird nicht rechtzeitig fertig, aber irgendwann wird es bestimmt fertig."

Ein Zurück ist ohnehin nicht möglich. Das Herzstück des aus elf je 98 bis 110 Meter langen Teilstücken bestehenden Unterwassertunnels ist in Rohform seit August 2008 fertig. Da war die letzte der rund 15 Tonnen schweren Betonröhren von einem Katamaran aus in den Meeresgrund versenkt und mit Dehnfugen zusammengefügt worden. Alles erdbebensicher, versteht sich, liegt Istanbul doch an der nordanatolischen Verwerfung, die in den nächsten 30 Jahren schwerste Erdbeben auslösen könnte, wie Seismologen warnen.

Aus dem Ruder gelaufen sind auch die Kosten. Statt zwei Milliarden Dollar beim Projektstart 2001 hofft man jetzt, mit 4,5 Milliarden auszukommen. (Luise Ungerboeck aus Istanbul, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9./10.10.2010)