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Melinda Nadj Abonji: Grenzgängerin zwischen Serbien und der Schweiz

Foto: APA/ dapd/Lohnes

"Tauben fliegen auf", der nunmehr mit dem Deutschen Buchpreis geschmückte Roman der Serboschweizerin Melinda Nadj Abonji, gehört zu jener Sorte Erzählwerk, die man, in Ermangelung anderer, radikalerer Erfahrungen, rundheraus sympathisch finden muss. Abonji erzählt - vor dem Erfahrungshorizont ihrer eigenen Biografie - von der Emigration: Eine vierköpfige Familie aus der Vojvodina wagt, bereits etliche Jahre vor Ausbruch der Balkankriege, den wirtschaftlichen Neubeginn in der Schweiz. Das Elternpaar bildet, erst plättend und bügelnd, später dann ein Kaffeehaus als Wärmestube für Spießer am Züricher See betreibend, die Vorhut. Die beiden Mädchen, Ildiko (die Erzählerin) und Nomi, reisen nach ins gelobte Land der ewigen Neutralität, in dem der Erwerb von Bürgersinn und Kantönligeist von Staatskundelehrern überprüft wird.

Identität, sagt Abonji, gewinnt nur, wer der Illusion abschwört, ihm flöge das Verständnis für seine angeblich zum Besseren gewendete Lebenssituation in einem neuen Land von selbst zu. Wer hätte jedoch gewagt, dergleichen zu behaupten?

Alltagsnah plaudern

Abonji nimmt der kulturellen Transitsituation, unter der gerade die heranwachsenden Mädchen als praktizierende "Saaltöchter" im elterlichen Betrieb zu leiden haben, jede Schärfe. Ihre weitgehend alltagsnahe, plaudernde und doch atemlos voranstürmende Erzählsprache ist das wahre Integrationsinstrument: Die Verfassung eines in Einkommenszonen und Lebensinteressen zerfallenen Europas erfährt in Abonjis munterem Parlando ihre endgültige, wahre Aufhebung: Was schwer vermittelbar erscheint, erfährt in dieser Literatur der kleinen, behutsamen Anpassungsschritte die nämliche Würdigung. Gleich, ob die Hühner in der ungarischsprachigen Vojvodina ihre Eier in Verstecken legen oder ob friedliche Taubenzüchter zum Militärdienst müssen: Abonjis Ton bleibt stets auf freundliche Verständnisinnigkeit gestimmt.

Insofern ist die Haltung der 42-jährigen, in Becsej geborenen Autorin unantastbar: Der unwiederbringliche Verlust der Kindheitswelt mit ihrer Brauchtumspflege, dem Reich der allwissenden Großmütter in ihrer Herzensgüte ("Mamika"), der saufseligen Männer mit den trotzig verschwiegenen unehelichen Kindern, passt bestens mit der sachlichen Kälte des neuen Schweizer Erwerbslebens zusammen. Doch wie geht das?

"Tauben fliegen auf" erzählt vor allem auch die Erziehung eines jugendlichen, ob der vielfältigen Eindrücke aus zwei Lebenswelten verwirrten Herzens. Ildiko überquert nicht nur die Grenze zwischen zwei Zeitzonen und Mentalitätsräumen, sondern sie treibt auch auf der Scholle der Pubertät. Doch welcher Teenager, dem das Erwachsenwerden schlimm zusetzt, würde darüber hinaus nicht als ethnografischer Betrachter versagen?

Abonjis erzählerische Perspektive bildet den Schlüssel zum Verständnis eines Romans, der spät erst, vielleicht zu spät die Verheerungen der jugoslawischen Nachkriegsgeschichte ins Treffen führt, um für den aufgekratzten Ton zu werben, in dem die Chronistin ihr Herkunftsland in den Blick nimmt. Grundbesitzer wurden im Früh-Titoismus als "Kulaken" das heißt als "Klassenfeinde" gebrandmarkt und ihrer Güter wie Habseligkeiten beraubt. Auch Ildikos Großvater verschwand einst im Arbeitslager, hierauf im Kohlebergwerk. Als er 1951 zu Frau und Söhnen heimkehrte, überlebte er die erlittenen Torturen nur um wenige Monate.

Merkwürdig blass

Wie durch ein Brennglas blickt man nun auf den nahe am Alkohol gebauten Machismo von Ildikos Vater. Allmählich verständlich wird die Geducktheit einer Lebenshaltung, die ihre Deformationen jenen Anforderungen anpasst, die vom "Goldenen Westen" unterschiedslos an all diejenigen gestellt werden, die von seinen Butterbergen etwas abhaben möchten. Man erwärmt sich nachhaltig für Abonjis Anliegen: In Tagen, in denen Thilo Sarrazins eugenische Ausflüge in die deutsche Migrationsdebatte für rauchende Köpfe und lose Zungen sorgen, eignet Melinda Nadj Abonjis Roman eine unbedenkliche Vernünftigkeit, die sich wiederholt in Sätze von einiger Schönheit zu kleiden versteht.

Und doch verstört zugleich die Weigerung der Autorin, Erfahrungen des "Anderen", des von fernher Verstörenden, anders als in dahinrutschenden Perioden zu erzählen, die alles atemlos aufzählen, was Ildiko in ihren beiden Welten jeweils aufliest: in der alten serbisch-magyarischen, mit den abgewohnten Häusern hinter löcherigen Bretterzäunen, wobei Erstere raren Zauberschachteln gleichen. Und jener neuen, die merkwürdig blass bleibt, unplastisch, referiert und kaum erlebt - als ob nie ein Robert Walser über die Schweizer Tücken der Dienstfertigkeit im Tone subversiver Unterwürfigkeit gedichtet hätte.

Nach Hause finden

Ob "Tauben fliegen auf" daher tatsächlich den besten deutschsprachigen Roman des Jahres abgibt, mag füglich dahingestellt bleiben. Tatsächlich ist man gespannt auf die nächsten Texte von Melinda Nadj Abonji: Tauben verstehen sich schließlich nicht nur auf das Auffliegen und auf die Überbrückung weiter Strecken. Sie finden obendrein nach Hause - und transportieren wichtige Fracht in brieflicher Form. (Ronald Pohl/ DER STANDARD, Printausgabe, 9./10.10.2010)