Zu Beginn der Intendanz von Jürgen Flimm zeigte man die Oper "Metanoia - über das Denken hinaus": Atmosphärische Bilder konnten den Verlust des Regisseurs nicht wettmachen.

Foto: Staatsoper

Dieser Saisonauftakt war von Jürgen Flimm geradezu groß gedacht: eine Uraufführung mit Barenboim, Pollesch und Schlingensief. Das lässt sich hören. Und dass, obwohl der neue Intendant mindestens für die nächsten drei Jahre, renovierungsbedingt, auf die Opern-Schmuckschatulle Unter den Linden verzichten muss. Operngerecht aufgemöbelte Ausweichspielstätte ist das Schillertheater.

Und hier exekutierte Daniel Barenboim, Flimms Musikchef, am Pult der Staatskapelle präzise jene Komposition, die er bei Jens Joneleit in Auftrag gegeben hatte: Metanoia - über das Denken hinaus. Durchaus kühn gedacht war, Christoph Schlingensief mit der szenischen Realisierung zu beauftragen. Der hatte sich in Bayreuth und im brasilianischen Manaus längst als operntauglich erwiesen und an der Deutschen Oper Berlin der ersten schweren Attacke seines Krebsleidens Braunfels' Heilige Johanna abgerungen. Wobei er bei seinen Ausflügen auf die Opernbühne keineswegs seinen kreativen, anarchischen Zugang der Form geopfert, sondern die Stücke seinem großen Gesamtkunstwerk einverleibt hatte.

Schlingensief ist Ende August seinem Krebs erlegen. Es spricht durchaus für den angeblich ja so eventversessenen und berechnenden Kulturbetrieb, dass die Auftraggeber des Metanoia-Projektes in Berlin keinen Plan B für den Fall in der Schublade hatten, dass er es nicht schaffen würde. Ohne einen Ersatzregisseur zu benennen, übernahm also Schlingensiefs Stab kollektiv seine Position. Oder eben auch nicht.

Denn was da im Schillertheater jetzt über die Bühne ging, enthielt sich zwar dankenswerterweise jeglichen aufgesetzten Schlingensief-Gedenkens, bewies aber (mehr als nötig), dass seine Art von Theater ohne ihn nicht einmal ansatzweise funktioniert.

Nun war Schlingensief - ob als schöpferischer Interpret oder als Autor und Akteur - auch kein Apostel der gradlinigen Aussagen oder glasklaren Botschaften. Aber sein anarchischer Furor, seine Lust, neben ausgetretenen szenischen Pfaden herumzuhüpfen und seine Darsteller mit sehr persönlichen Zwischenrufen zu erschrecken, führten immer (oder jedenfalls meistens) zu einer neuen, autonomen Wirklichkeit. Genau das fehlte in Berlin völlig.

Filmische Überblendungen, gerümpelartige Bühnenkonstrukte, Nachbildungen von Organen, oder Kostüme, die an Bazillen erinnern, all diese sind und bleiben ohne den charismatischen Bühnenzauberer nichts als Zutaten.

Existenzielle Fragen

So gab es in Berlin Jens Joneleits "Oper in einem Aufzug für fünf Gesangssolisten, gemischten Chor, Orchester und Live-Elektronik" nahezu pur.

Und das war kein Vorteil. Das Libretto richtet der Komponist am Ende selbst ein. Es basiert auf Textcollagen von René Pollesch, bestehend aus Friedrich Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, sonstiger Philosophie und banalen Alltagsweisheiten und dient sich der Musik an. Metanoia - über das Denken hinaus will Zustände erfahrbar machen.

Segmentiert werden die siebzig Minuten durch Orchesterzwischenspiele in Vorgestern, Gestern, Jetzt, Morgen und Übermorgen. Alles kreist irgendwie um Individualität, Apollinisches, Dionysisches und sonstige Endfragen, um dann selbst nach dem einen allgemeingültigen Satz zu verlangen. Natürlich ohne ihn zu bekommen.

Undramatische Suada

Wie der Teufel das Weihwasser vermeidet diese undramatische Suada so etwas wie die simple Nachvollziehbarkeit. Wenn Martin Wuttke, gehüllt in eine Griechentoga, klar rezitiert, wirkt das nur gravitätisch. Und wenn sich die Musik vom Textsound emanzipiert, dann zieht sie sich auf lakonische Prägnanz, abrupte Stimmungswechsel oder ausweichende Freiräume für gesprochene oder gesungene Worte zurück.

Die Interpreten - der vehement auf stimmliche Autorität bestehende Charaktertenor Graham Clark, Bariton Daniel Schmutzhard, Annette Dasch, Anna Prohaska und Alfred Reiter - müssen ein ziemliches Textbruchstückpensum absolvieren.

Die Beiträge der Live-Elektronik zum großen Orchesterklang gingen unter, ebenso wie jeder Ansatz einer szenischen Aktion in der meist statisch oratorienhaften Aufstellung des Chores. Metanoia jedenfalls ist von seinem guten Geist verlassen. Fazit: Der Mut zum Risiko schließt das Scheitern ein. Sein Requiem hat sich Schlingensief selbst inszeniert. Höflicher Beifall im Schillertheater. (Joachim Lange aus Berlin/DER STANDARD, Printausgabe, 6.10. 2010)