Belgrad, Sonnenaufgang

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daStandard.at: Sie haben in Europa und in den USA gelebt, Sie reisen sehr viel. Was würden Sie sagen, wo Ihre Heimat ist, wo Sie sich zu Hause fühlen?

Marija Knežević: Das ist eine sehr aktuelle Frage. Wir leben in einer Ära der "neuen Nomaden", in einer Zeit, in der Migration sehr intensiv betrieben wird. Ganze Generationen sind zwei- oder dreisprachig aufgewachsen. Meine Heimat ist die Kunst. Die Kunst verlangt volle Hingabe, und bietet im Gegenzug großen Genuss. Heutzutage ist es nicht leicht, ein Künstler zu sein, aber die Kunst hat auch schon schlimmere Zeiten und Epochen überlebt.

In den USA habe ich mich mit postkolonialen Theorien beschäftigt, und da ist oft die Rede von Identität. Für mich ist Identität ein fließendes Konzept. Identität kann niemals eine fix vorgegebene Tatsache sein, es geht immer um einen Prozess. Identität ist etwas, das gerade deshalb überlebt, weil es ständigen Veränderungen ausgesetzt ist.

Dieses Gefühl, zu Hause zu sein, habe ich schon, und zwar in Belgrad, in der Stadt, in der ich geboren bin und die ich immer am meisten lieben werde. Gleichzeitig kommt es vor, dass ich mich manchmal in einen anderen Ort verliebe und ihn als "meinen" Ort empfinde, und ich hoffe, dass das noch oft passieren wird. Mein wichtigster Heimatort ist aber die Sprache, in der ich schreibe, und diese Sprache heißt heute Serbisch. Die Sprache ist meine größte Leidenschaft, was automatisch bedeutet, dass sie mein echter Heimatort ist.

daStandard.at: Sie haben lange in den USA gelebt. Haben Sie im Ausland Menschen aus Ex-Jugoslawien kennengelernt? Wie waren diese Begegnungen?

Knežević: Ich bin in Jugoslawien geboren. Dieses Land existiert nicht mehr. Es ist ein sehr seltsames Gefühl, wenn das Land, in dem man geboren wurde, plötzlich "abgeschafft" wird. Das kann man Menschen, die das nicht erlebt haben, schwer erklären. Aber wir, die diese Erfahrung gemacht haben, verstehen einander ohne Worte!
Meine Begegnungen mit Landsleuten im Ausland waren immer sehr gut, ich war häufig beeindruckt von dem, was diese Menschen geschafft haben. Das gilt sicher auch für andere Länder, ich möchte jetzt nicht "jugozentristisch" klingen. Aber ich habe viele Ex-Jugoslawen kennengelernt, die man mit Fug und Recht als Weltbürger bezeichnen kann. Natürlich fühlt sich niemand gerne aus seinem Land, seiner Stadt, seinem Zuhause vertrieben, aber ich sehe, dass die neuen Emigranten sich sehr bemühen, nicht allzu viel Energie auf Nostalgie zu verschwenden, sondern sich auf sinnvollere und schönere Lebensinhalte zu konzentrieren.

daStandard.at: Wie sehen Sie Serbien bzw. Ex-Jugoslawien, wenn Sie im Ausland sind?

Knežević: Serbien ist an sich ein wunderschönes Land, das merkt jeder, der durch das Land fährt. Das heutige Serbien tut mir ehrlich gesagt Leid. Es wird regiert von Leuten, denen Moral und Kultur unbekannt sind. Ich hoffe, dass diese Phase irgendwann vorbeigeht, denn alles geht vorbei, alles ändert sich, und nach dem Regen kommt die Sonne...

daStandard.at: Ihre Lesung in Wien stand unter dem Motto "Wien in Belgrad, Belgrad in Wien". Wo finden Sie Belgrad in Wien und vice versa?

Knežević: In Wien fühle ich mich genauso wohl wie in Belgrad. Die vielen "Jugos", die in Wien und in Österreich leben, tragen auf ihre eigene Weise zum Dialog zwischen zwei Kulturen bei. Daher gibt es viel Wien in Belgrad und viel Belgrad in Wien.
Beide Städte sind kosmopolitische Städte. In Wien genieße ich die Spaziergänge, die Architektur, die Natur, die wunderbare Luft und alle diese Sprachen, die man hier hört. Für mich ist Wien so etwas wie eine Sauna für den Geist. Ich habe hier nie Ausländerfeindlichkeit gespürt, ganz im Gegenteil. Ich spüre eher eine Offenheit und Ruhe, einen gewissen Einklang. Ich habe in Wien gut schreiben können - und das ist für mich der wichtigste Parameter.

daStandard.at: Was denken Sie, wie Ihre Literatur in anderen Ländern rezipiert wird? Glauben Sie, dass die Leser in anderen Sprachen Ihre Bücher "anders" lesen als diejenigen, die Ihr Werk in der Originalsprache lesen können?

Knežević: Nein, so denke ich nicht. Obwohl viel natürlich von der Übersetzung abhängt. Aber die Rezeption ist überall gleich - es gibt Leser, die das, was ich mache, verstehen und mögen, und solche, die es niemals mögen werden, trotz sprachlicher oder inhaltlicher Nähe. Um mit Aristoteles zu sprechen, echte Kunst hat notwendigerweise eine universelle Dimension. Deshalb ist das einzige entscheidende Kriterium in der Kunst die Qualität. Ich arbeite immer sehr lange an meinen Büchern, so lange, bis ich selbst zufrieden bin. Aber selbstverständlich sind es die anderen, die die Qualität meines Werkes zu beurteilen haben.