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Premier Wladimir Putin zu Besuch in einem Severstal-Werk. Anziehende Exporte helfen dem größten Stahlproduzenten Russlands gerade wieder auf die Beine.

Foto: Reuters

Nur langsam kehrt in der russischen Stahlregion Wologda die Normalität zurück. In der Krise halbierte sich die Industrieproduktion. Der Schock sitzt tief. Investitionen in andere Branchen sollen künftige Krisen abfedern.

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Wologschanka, die "Frau aus Wologda", läuft rund um die Uhr auf Hochtouren. Im Inneren des Hochofen Nr. 4, wie Wologschanka weniger blumig genannt wird, schmilzt bei mehr als 2000 Grad Roheisen. Aus dem 2005 generalüberholten Hochhofen des größten Stahlproduzenten Russlands Severstal fließen jährlich bis zu 2,2 Millionen Tonnen flüssiges Stahl.

Ende 2008, Anfang 2009 drohte der rotglühende Strom zu versiegen. Die Wirtschaftskrise ließ binnen weniger Wochen die Industrieproduktion in der russischen Region Wologda, 500 Kilometer nordöstlich von Moskau, um 47 Prozent einbrechen.

Im industriellen Herz der Region, der 300.000-Einwohnerstadt Tscherepowez, zogen die Arbeitgeber die Reißleine. 10.000 Arbeitsplätze. Alleine im Metallurgiekombinat Tscherepowez, in dem 45 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung angestellt sind, wurden 8.000 Stellen abgebaut.

Am Tropf des Stahlwerkes

Für die Stadt und die Region eine Katastrophe, ist sie doch von den Arbeitsplätzen und den Steuern des Stahlkonzerns abhängig. Severstal trägt laut Andrej Trawnikow, erster Stellvertreter des Tscherpowezer Bürgermeisters, 70 bis 80 Prozent zum Budget bei.

Dank der wiederanspringenden Konjunktur hat sich die Lage inzwischen wieder beruhigt. Laut Dmitri Waljachonow, Sicherheitsdirektor des Hochofens Nr. 4 , liegt die Auslastung des Stahlwerkes wieder auf Vorkrisenniveau - bei 98 Prozent.

Vor allem die Erholung der Autoindustrie und die Expansion der internationalen Autoproduzenten auf den russischen Markt hilft Severstal. Das Unternehmen, das dem achtreichsten Russen Alexej Mordaschow gehört, hat am russischen Automarkt einen Marktanteil von fast 30 Prozent.

Neue Arbeitsplätze

Auch am Arbeitsmarkt in der Region geht es bergauf. 6000 Stellen wurden mithilfe des föderalen Antikrisenprogramms geschaffen. Vizegouverneur Leonid Jogmann beziffert die Zahl der offenen Stellen in der Region derzeit auf 12.000.

Dennoch sitzt der Schock der Krise noch tief. Mithilfe von Investitionen will die Verwaltung der Region die Abhängigkeit von der Stahlindustrie senken. "Wir sind an allen Investitionen interessiert, die uns bei der Diversifizierung unserer Wirtschaft helfen", sagt der Vizebürgermeister von Tscherepowez.

Mit speziellen Anreizen wie zeitlich begrenzten Steuerbefreiungen und einem Rabatt auf die Gewinnsteuer will Jogmann internationale Investoren in die Region holen. Keine leichte Aufgabe, gilt die Region noch als unterentwickelt.Wologda ist mit einer Fläche von rund 144.000 zwar größer als Griechenland, hat aber nur 1,2 Millionen Einwohner. 80 Prozent des Gebietes, dessen Form an die Sowjetunion erinnern, sind von Wald bedeckt. Abgesehen von der Stahl- und Chemieindustrie spielt in Wologda auch die Produktion von Milch und Textilien eine wichtige Rolle.

Staatliche Konkurrenz

Große Tradition hat das Klöppeln von Spitzen, die in Russland ebenso bekannt sind wie die berühmten Brüsseler Spitzen. In Wologda, der Hauptstadt der gleichnamigen Oblast, kämpfen eine staatliche und ein private Textilfirma um den Markt. Seit fünf Jahren ist die private Klöppelei "Sneschinka" (Schneeflocke) bereits im Geschäft. Vor drei Monaten hat Maria Agapowa, die Sneschinka 2005 mit ihrem Mann übernommen hat, staatlich unterstützte Konkurrenz bekommen.

Vor mehr Wettbewerb fürchtet sich Agapowa, die jährlich rund 30 Millionen Euro umsetzt, eigentlich nicht. Auf Kooperation seitens der Behörden wagt die Unternehmerin, die im vergangenen Jahr 29 verschiedene Kontrollen über sich ergehen lassen musste, aber nicht zu hoffen. "Die Administration stört nicht, aber sie hilft auch nicht", sagt die Unternehmerin.

Dass in der Provinz vieles anders läuft als in der russischen Hauptstadt musste auch der Italiener Antonio Rizzi erfahren, der in Russland und Ex-Sowjetrepubliken mehrere Restaurant gegründet hat. "In Moskau schafft man Unannehmlichkeiten aus dem Weg, indem man zahlt. Das läuft hier anders", sagt Rizzi. In Wologda würde nicht einmal die Garderobenfrau Geld annehmen. (Verena Diethelm aus Tscherepowez, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4.10.2010)