Mit der ihm eigenen Polemik prangert der bekannte deutsche Kirchenkritiker Karl-Heinz Deschner die Haltung der christlichen Kirchen gegenüber den Tieren an: „Seit zwei Jahrtausenden brüstet sich die Christenheit, das Tieropfer von Anfang an abgeschafft zu haben; stimmt. Und doch hat sie mehr Tiere geopfert als jede andere Religion - nur nicht mehr Gott, sondern dem eigenen Bauch."
Deschners Urteil klingt hart, ist aber eigentlich nicht hart genug. Es stimmt zwar, dass die überwältigende Mehrzahl der Christen, der Kleriker, Theologen und Laien, unbekümmerte Karnivoren, Fleisch(fr)esser, sind, die tierisches Leid in industriellen Tierfabriken salopp ignorieren. Was Tieropfer betrifft, hat Deschner jedoch Unrecht. In Teilen der orthodoxen Kirche Griechenlands nämlich oder in der armenisch-apostolischen Kirche hat sich bis heute der Brauch erhalten, an bestimmten christlichen Festen Tiere zu schlachten und sie Gott als Opfer darzubringen.
Tieropfer sind auch im Hinduismus zu finden. In Bariyapur im Süden Nepals werden alle fünf Jahre zehntausend Büffel zu Ehren der hinduistischen Göttin Gadhimai geschlachtet. Das blutige Opfer soll die Göttin dazu bewegen, den Hunderttausenden von mitfeiernden Gläubigen Glück und materiellen Wohlstand zu verschaffen.

Ex-Beatle versus Dalai Lama

Vor einigen Jahren schrieb Paul McCartney, Ex-Beatle und prominenter Vegetarier, an den Dalai Lama. In seinem Brief beklagte er sich beim Oberhaupt des tibetischen Buddhismus, dass dieser zwar Mitgefühl mit allen Lebewesen predige, jedoch selbst Fleisch esse. "Entschuldigen Sie, dass ich Sie darauf aufmerksam mache", schrieb Sir Paul, "aber wenn Sie Tiere essen, gibt es irgendwo ein gewisses Maß an Leid." Der Dalai Lama schrieb zurück, dass seine Ärzte ihm geraten hätten, Fleisch zu essen. Selbstbewusst und lapidar erwiderte Paul McCartney, dass die Ärzte sich irren würden.
Es gibt viele Buddhisten, die Vegetarier oder Veganer sind, viele andere Buddhisten essen Fleisch. Das erste Gebot des Buddhismus, das das Töten von Lebewesen verbietet, wird von buddhistischen Karnivoren so interpretiert, dass es dem einzelnen Buddhisten lediglich vorschreibe, selbst keine Tiere zu töten und keine Tiere zu essen, die eigens für ihn geschlachtet worden sind. Alle Tiere, deren Leichenteile man im Supermarkt kaufen oder bei einem Buffet auf den Teller schaufeln kann, seien aber nicht eigens für die jeweilige Person getötet worden und könnten deshalb gegessen werden. Die buddhistische Realität des Umgangs mit Tieren ist differenzierter als idealisierte westliche Vorstellungen nahe legen.
Auch die hinduistische Tierethik ist eine komplexe Angelegenheit. Es gibt Hindus, die Tiere opfern, doch es gibt weit mehr Hindus, die sich aus unterschiedlichen Motiven (Mitgefühl, Reinheitsvorstellungen, Reinkarnationsglaube) vegetarisch ernähren. Mahatma Gandhi hat die Opferung von Tieren als Irrlehre verurteilt und die hinduistische Ethik der Gewaltlosigkeit und des Nichtverletzten (Ahimsa) aktualisiert. Gandhi war davon überzeugt, dass Größe und Fortschritt einer Nation daran zu messen seien, wie sie Tiere behandelt.

Tier-Theologie

Viele Menschen essen kein Fleisch, weil sie Hinduisten sind. Viele Menschen essen kein Fleisch, weil sie Buddhisten sind. Aber nur sehr wenige Menschen essen kein Fleisch, weil sie Juden, Christen oder Muslime sind. Doch langsam und allmählich verändert sich auch in den drei abrahamitischen Religionen etwas zum Positiven: Ende August dieses Jahres fand beispielsweise in Dortmund der erste ökumenische Kirchentag Mensch und Tier statt und sprach sich für einen barmherzigeren und gerechteren Umgang mit den Tieren aus. Und neben Peter Singer und Tom Regan zählt auch ein christlicher Theologe, der anglikanische Geistliche Andrew Linzey, zu den Pionieren der neueren Tierrechtsbewegung.
Linzey, Autor der grundlegenden Studie Animal Theology, leitet das Oxford Centre for Animal Ethics. Ehrenmitglied (Honorary Fellow) dieses Forschungszentrums ist der südafrikanische Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee. In Coetzees 1999 erschienen Roman Das Leben der Tiere äußert die Hauptfigur den Verdacht, dass das Segensgebet, das vor Mahlzeiten gesprochen wird, dem Menschen lediglich dazu diene, seine Verantwortung zu delegieren: "Vielleicht haben wir Götter erfunden, damit wir sie verantwortlich machen können. Sie haben uns erlaubt, Fleisch zu essen."
Die christlichen Kirchen wären gut beraten, tierethische und tiertheologische Anfragen Ernst zu nehmen und sich auf eigene tierfreundliche Traditionen zu besinnen: um der Tiere willen natürlich, aber auch um der Menschen und um Gottes willen. (Kurt Remele, DER STANDARD, Printausgabe, 4.10.10)