Bild nicht mehr verfügbar.

ZUR PERSON: Roman Herzog (76) war von 1994 bis 1999 deutscher Bundespräsident. Der Verfassungsrechtler diente zuvor in Baden-Württemberg als Kultus- und Innenminister, danach war der CDU-Mann Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Am Wochenende weilte er als Gast des österreichischen Verfassungsgerichtshofes in Wien.

Foto: APA

STANDARD: Wirtschaftskrise, Sarrazin-Debatte, Stuttgart 21, Hartz-IV-Konflikt - Deutschland wird dieser Tage ganz schön durchgerüttelt. Aber hat es inzwischen auch den berühmten Ruck gegeben, den Sie 1997 so vehement gefordert haben?

Herzog: Ich habe mich damals auf zweierlei bezogen: die Unbeweglichkeit unserer Wirtschaft und den Reformstau im staatlichen Bereich. Ersteres hat sich fundamental geändert. Wir gehen aus der Krise der letzten Jahre relativ gestärkter hervor, weil unsere Wirtschaft schon in den 1990er-Jahren manche Dinge durchgemacht hat, die andere erst viel später getroffen haben. Wir hatten zum Beispiel eine stattliche Anzahl von Insolvenzen, bei denen untüchtige Firmen ausgeschieden wurden. Dazu kommt der Aufschwung in den neuen Ländern: Heute stehen manche Regionen im Osten besser da als viele im Westen. In der Politik dagegen hat sich wenig getan. Es gibt noch immer massenweise Vorschriften. Man könnte 30 Prozent davon streichen, ohne dass es jemand auffällt. Den Brüsseler Vorschriftsfimmel noch gar nicht eingerechnet. Vor allem aber: Wir können die Parteiendemokratie heute nicht mehr aufrechterhalten. Für einige Jahrzehnte gab es große Volksparteien, weil es keine Interessenparteien und keine Links- oder Rechtsaußen-Parteien in Deutschland gab. Heute ist die politische Integrationsleistung schwieriger. Die Politiker müssen immer verwaschener werden, um überhaupt noch eine größere Zahl von Menschen zu erreichen.

STANDARD: Stuttgart 21 ist ein gutes Beispiel dafür. Der Protest dagegen reicht bis tief in bürgerliche Schichten hinein, viele können mit ihren Politikern nichts mehr anfangen.

Herzog: Ich verstehe Stuttgart 21 nicht. Es wurde nicht versucht, den Bürgern zu erklären, was das soll. Es gibt in unseren Städten Kopfbahnhöfe, in die 40 oder 50 Gleise führen. Städte werden zerschnitten. Das ist im Grunde ein Skandal, da hätte man aufklären müssen. Und ich glaube nicht, dass es dagegen eine Mehrheit gibt. Die Sache mit den Mehrheiten ist ja sowieso eine schwierige. Nehmen Sie den Herrn Sarrazin. Mit seinen Immigrationsthesen bekäme eine Sarrazin-Partei 20 Prozent. Wenn er aber in sein Programm aufnehmen würde, was er als Berliner Finanzsenator gemacht hat, dann würde kein halbes Prozent bei ihm bleiben. Stuttgart war ein primitiver politischer Know-how-Fehler, Sarrazin dagegen ist eine ganz andere Geschichte.

STANDARD: Stuttgart 21 also nur ein Resultat der Arroganz der Macht?

Herzog: Nicht einmal der Arroganz der Macht, das ist Gedankenlosigkeit der Macht.

STANDARD: Dummheit?

Herzog: Das haben Sie gesagt ...

STANDARD: ... und Sie haben vor gar nicht langer Zeit vom Grundrecht auf Dummheit gesprochen.

Herzog: Ja, klar. Und insofern sind die beiden Fälle, Stuttgart 21 und Sarrazin, verschieden.

STANDARD: Sie haben in Ihrer Berliner Rede auch Visionen eingefordert. Davon ist bisher wenig zu merken. Auch weil der demografische Wandel dagegen arbeitet.

Herzog: Ja, ich habe den Begriff Rentnerdemokratie geprägt. Dafür bekomme ich von den Rentnern bis heute saugrobe Briefe. Sie und diejenigen, die zehn Jahre vor der Rente stehen, stellen heute schon die Mehrheit. Wenn ich junge Abgeordnete im Bundestag sehe, dann stehen die mit ihrer Klientel mit dem Rücken zur Wand. Es müsste einen umgekehrten Generationenpakt geben, die Alten müssen versprechen, die Jungen nicht zu sehr auszunehmen.

STANDARD: Eine letzte Frage zur Deutschen Einheit. In Umfragen glauben erstaunlich viele unter 19-Jährige, die BRD oder sogar die Amerikaner hätten die Mauer seinerzeit aufgebaut. Ist damit die Einheit endlich geglückt?

Herzog: (lacht) Ein wenig schon. Da ist es wieder, das Grundrecht auf Dummheit. Im Ernst: Es gibt eine Normalisierung, zwar auf niedrigem Niveau, aber es gibt sie. Es gibt eine lockerere Generation, die nicht mehr mit Schaum vor dem Mund argumentiert - im Westen wie im Osten. Da gibt es keinen Unterschied mehr, das ist ein Riesenfortschritt. (Christoph Prantner, DER STANDARD, Printausgabe, 4.10.10)