Euphorie in Blau. Jeff Tweedy, Chef der US-Band Wilco, charmierte in seiner Grundstimmung das Wiener Publikum.

Foto: Standard/Heribert Corn

Wien - Beim Schmerz kennt er sich aus. Jeff Tweedy litt viele Jahre lang unter Kopfschmerzen. Das resultierte in einem dauersedierten Dasein und in einer unterschwelligen Wehleidigkeit, die in fast allen seinen Songs mitschwingt. Selbst die Euphorie ist beim Chef der US-Band Wilco blau gefärbt. Die Kopfschmerzen - so heißt es - sind zwar überstanden, die Grundstimmung ist aber geblieben. Am Donnerstag gastierten Wilco erstmals in Österreich. Nach einer Aufwärmrunde wurde ihre späte Premiere im Gasometer zur Weihestunde.

Wilco formierte sich 1994 in Chicago. Traf bei der Vorgänger-Band Uncle Tupelo noch der Hardcore-Gestus von Bands wie Hüsker Dü auf Kuhbuben-Musik, war Wilco trotz manch wilder Rodeo-Ritte tendenziell wertkonservativ angelegt.

In diesem Lichte erschien auch der Beginn des Konzerts. Denn Wilco können wie die Eagles der Generation Punk erscheinen. Das ist zwar eine kleine Gemeinheit, aber der sanfte Country-Rock, dem Tweedys Idiom seine charakteristische Weinerlichkeit verleiht, überschreitet mitunter die Grenzen zum Soft- und Saftrock der 1970er-Jahre. Durchaus in Schönheit, wie das zärtlich zerpflückte I'm Trying To Break Your Heart belegte. Trotzdem saßen und standen die sechs Musiker eher behäbig herum, wirkten wie in Abwartehaltung, wo dieser Erstkontakt sie denn tatsächlich hinführen würde.

Erst als Tweedy - Polsterfrisur, Fußballerschenkel, lebenserfahrene Physiognomie - sich zwischen den Songs mit dem Saal auszutauschen begann, kam die Show richtig in Fahrt. Nicht dass es davor schlecht gewesen wäre, aber zeitweise fühlte man sich an Simon & Garfunkel erinnert - ohne Garfunkel. Bloß der Ausnahmegitarrist Nels Cline sorgte für kleine, dringend notwendige Störgeräusche.

Soul aus dem Handtuch

Diese wurden zusehends mehr und lauter, Clines Spiel extremer. Der Rest der Band ließ sich davon bereitwillig infizieren, gockelte in Stadionrock-Posen und genoss die eigenen Blödheiten. Und plötzlich ging alles: Aus einer mit Handtuchwischern misshandelten Orgel drang süßer Soul für das liebeskranke How To Fight Loneliness, in Deeper Down ließ Cline die Steel-Gitarre greinen, und eine Weltnummer wie das ökonomisch schunkelnde I'll Fight vom jüngsten Album erstrahlte in all ihrer einnehmenden Schönheit.

Sieben Studioalben haben Wilco bislang veröffentlicht. Diese machten sie zu einer der erfolgreichsten Bands im Graubereich von Mainstream und Alternative Music. Dort haben sie neben Americana-Traditionspflege auch experimentiert, was unter Mitwirkung des einschlägigen Produzenten Jim O'Rourke zu mächtigen Ergebnissen wie den Alben Yankee Hotel Foxtrot oder A Ghost Is Born mit dem zehnminütigen Krautrock-Monster Spiders (Kidsmoke) geführt hat. Davon blieb der Auftritt in Wien zwar leider unberührt, aber das letzte Drittel des Konzerts ließ dennoch kaum Kundenwünsche offen und gipfelte in einem berauschenden Zugabenblock.

Beginnend mit Tweedys Vertonung des Woody-Guthrie-Textes California Stars, schraubten Wilco sich über Red-Eyed And Blue zum poppig-rockenden Outta Sight (Outta Mind) hoch. Der Saal tobte. Tweedys lebensnahe Erzählungen wurden mit Herzblut geflutet und von der Band in eine kontrollierte Ekstase überführt. In einem eigentlich stockkonservativen Genre werden Pflicht und Kür von keiner anderen Formation so souverän verschränkt wie von Wilco. Die Beweislage nach diesem Konzert war herrlich erdrückend. (Karl Fluch, DER STANDARD - Printausgabe, 25. September 2010)