Kompositionen, die sich während der Arbeit noch ändern: Details des Michelangelo-Kartons "Madonna mit Kind"

 

 

Foto: Casa Buonarotti

Ein Lokalaugenschein.

1509 schrieb Michelangelo Buonarotti an seinen Liebhaber Giovanni da Pistoia: "Ich habe beim Malen einen Kopf bekommen wie die Katzen in der Lombardei vom schlechten Wasser". Sein Kopf liege am Nacken auf, die Brust gleiche der einer Harpyie. "Ich bin krumm wie ein syrischer Bogen", klagt der Meister, der gerade die Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle fertigstellt, nicht ohne Humor: "Mein Verstand leidet darunter. Es schießt sich schlecht mit einem gebogenen Rohr", zitiert Achim Gnann, Spezialist für italienische Zeichnung und Kustos der Albertina, aus der Übersetzung des Briefes.

Das Original liegt gleich vor ihm auf dem Tisch. In einem abgedunkelten und mit einer Gittertür versehenen Raum der Casa Buonarotti zeigt er einigen österreichischen Journalisten ein paar der Schätze des kleinen Florentiner Museums, ungerahmt und aus allernächster Nähe.

Die Direktorin Pina Ragioneri, eine Dame von über 80 Jahren, wacht in der Via Ghibellina über 106 Handschriftenbände und - mit insgesamt mehr als 200 - über ein gutes Drittel aller Michelangelo-Zeichnungen. Zweimal in seinem Leben hat der italienische Künstler Zeichnungen verbrannt, erzählt Gnann: "Michelangelo hat ständig mit sich selbst gehadert. Er war ein sehr tragischer Mensch."

Sprechende Details

Der Brief weist jedoch am Rand noch ein interessantes Detail auf. Der Meister hat sich beim Malen der Gottesfigur skizziert: stehend. Eine kleine Karikatur beweist also, dass er die Decken der Sixtinischen Kapelle eben nicht im Liegen, sondern qualvoll im Stehen ausgemalt hat. "Jeder andere wäre an dem kolossalen Auftrag zerbrochen", meint Gnann über Michelangelo. Zweifelsfrei ein Genie, der aber im Vergleich zu seinem Zeitgenossen Raffael, einem geschickten und höflichen Netzwerker mit großer Werkstatt, ein schwieriger Einzelgänger war und sich sogar mit dem Papst Julius II. Wortgefechte lieferte. Binnen eines Monats schickte er alle seine fünf Assistenzmaler zurück nach Florenz, darunter war auch einer seiner ältesten Freunde, Francesco Granacci, der mit ihm zusammen in der Werkstatt Ghirlandaios gelernt hatte.

Ein männlicher Rückenakt (1504/05) zeigt den typischen michelangelesken Federzeichnungsstil mit sich verdichtenden, rhythmischen Kreuzschraffuren. "Bei Michelangelo zerbirst die Energie den Körper regelrecht", weist Gnann auf geradezu tastbare Details des kraftstrotzenden Körpers hin. Während einem beim Anblick der 500 Jahre alten Blätter fast der Atem stockt, waren die Zeichnungen für Michelangelo nichts anderes als vorbereitende Skizzen, deren Rückseite er auch schon mal als Einkaufsliste verwendete.

Die Casa Buonarotti leiht der Albertina "zwei Drittel ihrer schönsten Zeichnungen", schätzt sich Gnann, der vor drei Jahren mit den Vorbereitungen zur großen Schau begann, glücklich. Einzig die Ausstellung von 1989 in Paris, die etwa hundert Zeichnungen des Florentiner Ausnahmekünstlers versammelte, sei vergleichbar. Die Albertina, die Leihgaben aus dem Metropolitan Museum, dem Louvre oder dem British Museum gewinnen konnte, wird auch Blätter von Michelangelos Freunden und Kollegen, wie etwa von Sebastiano del Piombo und Giulio Clovio, zeigen.

Debatte um Authentizität

Die Blätter sind heikel, tragen die Spuren ihrer jahrzehnte- oder gar jahrhundertelangen Präsentation. Auch die Tinte, deren Eisengehalt die Zeichnung "buchstäblich rosten" lässt, setzte ihnen schwer zu. Weniger erfreulich für die Museen ist, dass jede Ausstellungen von Michelangelo-Zeichnungen die Debatten um Authentizität und Zuschreibung aufflammen lässt.

Geht es nach dem Spezialisten Alexander Perrig, der eine Art graphologische Analysemethode anwendet, stammten in der Frankfurter Städel-Ausstellung 2009 alle Zeichnungen bis auf ein Blatt von anderer Autoren - vornehmlich von Michelangelo-Schülern wie Tommaso de Cavalieri oder Marcello Venusti.

Dem schließt sich auch die 2008 erschienene Publikation von Pöpper, Thoenes und Zöllner an. Laut dieser sind sechs von acht Arbeiten in der Albertina gar keine Originale, berichtet Gnann. Man schreibt die Werke anderen zu, liefert aber keine Vergleichsbeispiele, die das untermauern würden, grollt er.

Beim Anblick des berühmten Kartons "Madonna mit Kind" (1520/25) aus der Casa Buonarotti verdampft jedoch solch' Ärger schnell. Der Entwurf zeigt, wie Michelangelo den Blick auf das für ihn Wesentliche richtete, wie er die Kompositionen während des Zeichnens entwickelte.

Wie viele andere von Michelangelos Zeichnungen wirkt auch diese flüchtig. Dennoch ist sie trotz aller Weglassungen komplett. Es ist ein kleiner Karton; sein Pathos und seine Energie vermögen jedoch in einer Ausstellung eine ganze Wand zu füllen. (Anne Katrin Fessler aus Florenz / DER STANDARD, Printausgabe, 24.9.2010)