Alle schweigen. Der Gasbrenner brüllt beruhigend in die Stille, das rastlose Getue im Korb hat aufgehört. Der auf dem Boden hockende Bub, auch er windet sich hoch, steht andächtig da. Wir sehen die Berge. Gewaltsame, gnadenlose Gottheiten, auferstanden aus dem milchigen Dunst, in den wir seit vielen Tagen hineinstarrten, ohne auch nur Konturen auszumachen. Jetzt gebieten sie uns Schweigen, die Gipfel des Annapurna im westlichen Himalaya. Die höchsten Berge der Welt.
Hartmann zieht eine Leine, der Heißluftballon dreht sich um die eigene Achse. Im Korb stehen sechs erwachsene Männer und ein Teenager, so knapp aneinander, dass jeder jeden berührt. Zwei Quadratmeter Platz, unter uns nur dieses zentimeterdicke Rattangeflecht und dann dreitausend Meter nichts als Luft. Im Osten geht die Sonne als zornrote Kugel auf, schmutzig im Vergleich zu den kristallklaren Gipfeln. Ich fühle mich erlöst, erleichtert. Den selbstgemachten Durchfallschutz - in der Früh hatte ich noch zwei Plastiksäcke mit Zeitungspapier ausgestopft und angezogen wie eine Unterhose - werde ich nicht brauchen.
Hätte auf Hartmann hören sollen. Er sagte, an Leinen gesichert und auf dem Korbrand sitzend könnte einer im Notfall auch hinunterscheißen. Vor den Göttern des Himalaya und den restlichen Passagieren seien aber nur die Besten dazu in der Lage.
Vor fünf Tagen: Ankunft in der geografischen Mitte Nepals, in Pokhara. Der Flughafen ist ein größeres Haus, durch das einer ebenerdig hindurchgeht. Die Luft war heiß und überladen, eine tiefstehende Sonne brannte die letzte Süße aus dem wuchernden Hibiskus neben der Eingangstreppe. Hartmann wartete. Schnürte mir ein Begrüßungstuch um den Hals. Brachte mich zu seiner indischen Leihmaschine, einem Motorrad der Marke Royal Enfield (das Nummernschild war handgemalt) und warf sich ein rotes Helmchen auf den Kopf. Dann in die Herberge. Als wir ankamen, nach zehn Minuten wilder Jagd zwischen Menschen und Maschinen und Steinen und Tieren, frug ich Hartmann: "Ist in Nepal eigentlich Links- oder Rechtsverkehr?" Wir seien eher links gefahren, sagte er.
Pokhara liegt eigentlich im tiefsten Tal der Welt. Die Siebentausender keine dreißig Kilometer Luftlinie entfernt, herrscht in der Stadt subtropisches Klima und der Monsun im Sommer. Ende März war es heiß und trocken, die meisten Menschen blieben im Schatten. Das stehende Wasser in den Kanälen war gallig grün und gärte. Wasserbüffel strichen durch die Gegend, wilde Hunde, räudige Katzen, scheinbar herrenlose Ziegen und eine verschreckte Kuh mit ihrem Kalb auf einer vielbefahrenen Brücke.
Ein Yak fraß teilnahmslos vom Müll, der hier in den Garten des Nachbarn zu werfen ist, zwei Affen sah ich, allerlei Echsen und ein Chamäleon, viele weiße Reiher, Beos in unserem Garten, einen Falken in der Luft stehen und rütteln. Und dabei wohnten wir mitten in der Stadt, im Viertel Damside. Hartmann schrie immer "Temsai, Temsai", und die Nepalesen verstanden sein brachiales Englisch richtig gut. "Sag alles immer laut und zweimal", riet er.
Vor vier Tagen: Hartmann lag auf dem Bauch und sah aus, wie Tiroler gerne aussehen: bärtig. Überhaupt haarig, schütter werdendes Haupthaar störte da nicht. Er war großgewachsen mit der zähen Statur eines, der viel geht, steht und hebt. Er hat wildblaue Augen. Wie er in mein Bett kam? Es gab im halbfertigen Appartementhaus nur ein Bett, ein Ehebett, wir wachten jeden Morgen nebeneinander auf.
Hartmann Abendstein wurde 1963 in Wattens, Tirol geboren. Ausgebildet zum Koch in Wien, wanderte er nach Stockholm aus, traf dort die wunderhübsche Finnin Elina und lernte beim Nachbarn, einem schwedischen Grafen, das Ballonfahren. Er wurde Pilot, bekam mit Elina drei Töchter, zog 1986 ins finnische Porvoo und fährt seither mit Gästen durch die Luft - über Helsinki, in Lappland, über den Alpen daheim in Tirol und nun in Pokhara, wo eben die Nepal Balloon Fiesta 2010 stattfand. Wobei das Ballonfahren nahezu ein künstlerischer Beruf ist: Den Elementen ergeben, bestimmt der Pilot nur, ob der Ballon steigt oder fällt. Beherrscht er seine Kunst, findet er guten Wind. Aber ob er starten, und wo er landen kann - das weiß er nie mit letzter Sicherheit.
Vor drei Tagen: Aufstehen um 4.45 Uhr morgens, Zeit für den ersten Flug! Weil der Strom ausgefallen ist ("no line", sagen die Leute hier), orientieren wir uns am Fluchen des anderen. Hartmann bemüht eine Kerze. Stimmungsvoll auch die Urlaute von den Tieren der Stadt, durchs offene Fenster drängen heisere Rufe und entferntes Grunzen. Das von weitem gehörte Moped kommt tatsächlich zu uns, es ist Bhushan, ein kleiner Mann mit Brillen und weichen Händen, dem der Lastwagen im Hinterhof gehört. Auf der Ladefläche verstaut ist der Korb, Gasflaschen, der Brenner und der Heißluftballon, in einen prallen Sack gestopft.
Wir fahren nordwärts, lassen die verdunkelte Stadt hinter uns. Arbeiter, Fahrtgäste, der Reiseagent stoßen dazu. Nach einer Viertelstunde Fahrt ins Phewa-Tal - flaches, breites Schwemmland - fahren wir in eine Reisterrasse, die zweite Ernte ist schon eingebracht. Es dämmert, weiter taleinwärts ist eine Hängebrücke auszumachen, filigran wie eine Zeichnung, ohne Farbe wie die Punkte auf den Feldern, die näher kommen. Das sind Dorfbewohner, alte Männer und hübsche Kinder. Hartmann ist in seinem Element, der Korb wird klargemacht, gekippt, die Hülle festgemacht und dutzende Meter hinausgeschleppt über das Reisfeld, halbwegs mit einem Propeller gefüllt, dann brüllen erste Stöße des Gasbrenners hinein. Gleich steht der Ballon. Aber abheben wird er heute nicht. Das Gas in den Flaschen ist unrein, zu viel Butan. Die "Ballonfahrt" wird einen Meter hoch und fünf Meter weit, vom Boden auf die Ladefläche des Trucks. Die nepalesischen Alten, die sicher fünfzig Kinder, sie sind ganz begeistert.
Vor zwei Tagen, in den Bergen: Da rannten diese wilden Jungs auf mich zu. Ich konnte sie aber aufhalten. Jedes Mal, wenn ich den Fotoapparat vors Gesicht hob und vorgab, ein Bild zu machen, blieben sie stehen. Bremsten so hart, dass der safrangelbe Sand aufstob, dann standen sie kerzengerade da, einmal salutierte der Größere. Wir repetierten das Kunststück drei-, viermal, ehe sie vor meinem Motorrad zum Stehen kamen. Nun machte sich Enttäuschung breit. Käme ein Motorradfahrer in unser Dorf, machte Bilder meiner Kinder, böte ihnen dann Süßigkeiten an oder Geld, er wäre mir verdächtig. Ich ließ die Buben also unbelohnt stehen, fuhr weiter talwärts.
Hier, im Vorgebirge östlich von Pokhara auf 1400 Meter, lag die Tiger Mountain Lodge. Ein fein gekleideter Herr erwartete uns am Schranken, ging schweigend vor uns her auf Kiespfaden durch einen wuchernden sattgrünen Park, ließ uns vor dem Haupthaus, einem ebenerdigen Bau mit riesiger Terrasse und Stühlen, die nordwärts standen, zum Annapurna hin, wortlos allein. Das Gebirge blieb verborgen, wir teilten ein Bier und verließen das geheimnisvolle Refugium wieder - einst hatten hier Prinz Charles und Lady Diana geweilt, raunte ein Bild neben dem Gästebuch von der Wand. Fuhren auf staubigen Straßen ins Tal, vorbei an drei Frauen in goldroten Saris, die neben der Straße nach Knollen gruben, vorbei an zwei Alten, die, Betelnüsse kauend, unter einer riesigen Pinie im Schatten lagen. "Die Männer in Nepal werden älter als die Frauen", sagte Hartmann nicht unerfreut.
Von Göttern und Geißen
Vor einem Tag: Für morgen war die Ballonfahrt vorgesehen, also brauchte ich eine Rasur. Der Barbier hieß Umesh, ein kleiner, sehniger Mann, der rasierte und massierte, was hier zueinandergehört. Erst redeten wir nichts. Aber an meinem Kinnbart blieb Umesh mit seiner stumpfen Schere hängen, ich brach das Eis und sagte: "Like beard of goat, yes?" Hart wie Ziegenbart. Er lachte und erklärte, die Ziege in Nepal bedeute zweierlei - wenn etwas stark riecht und irgendeine Gottheit. Götter, ich wollte mit ihm über Götter reden, und interessiert zuhören wie ein guter Weißer.
"So, how many gods do you have?", fragte ich ihn. Die Hindus haben eine ganze Menagerie. "I had six gods. But my mother get very sick", sagte Umesh. "Why? What happened?" Ich hakte nach. Was helfen dem Hindu tausend Gottheiten, wenn er sich nicht auskennt, welche passt? "No gods no more", sagte Umesh. "My mother sick!" Und er griff sich an den Hals wie einer, der keine Luft bekommt. Hatte es sich die Alte mit einem Luftgott vertan? "So it was bad gods in your house?" Jetzt wollte ich es wissen. "Evil gods? Bad Shiva?""No, no." Umesh sah ein bisschen verloren drein. "No, Sir, no gods. We had six goats - määäh, animal, you know. But my mother get sick. Now goats dead, she is fine." Als Umesh sprach, war kein Unterschied zu hören zwischen "gods" und "goats". Er hatte die ganze Zeit von Ziegen geredet.
Sinkflug zurück zum Anfang
Wir sanken jetzt, und die Berge verschwanden. Hartmann hielt den Ballon auf vielleicht 30 Metern, von den Stromleitungen ging hier die meiste Zeit des Tages keine Gefahr aus. Wir trieben über nebeneinandergepferchte Hütten und Verschläge, eingemauerte Gärten voll Gemüsestauden oder Unrat, kleine Kioske an den Seiten der Straßen, schmutzige Rinnsale und verzweifelt bellende Hunde - "die haben immer panische Angst vor dem Ballon, das ist weltweit so", sagte Hartmann.
Wir überflogen ein mehrstöckiges Haus, und auf dem flachen Dach stand eine ausgesprochen schöne junge nepalesische Frau. Wir flogen tief, ich sah ihre Atemlosigkeit nach dem Wettlauf aufs Dach. Sie hielt etwas im Schoß, streckte mir plötzlich ein neugeborenes Kind entgegen, gehüllt in weißes Tuch. Ich winkte salbungsvoll, aber sie war an mir nicht interessiert. Den Segen des Ballons wollte sie haben.
Und Hartmann, ganz mächtiger Luftgott, erhörte sie mit einem letzten Feuerstoß. (Thomas Brunnsteiner/DER STANDARD/Rondo/24.09.2010)