"Dominanzgesten haben nur den Sinn, Sieger zu sein", sagt die Psychonanalytikerin Rotraud Perner.

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Rotraud A. Perner hat eine neue Form der Pädagogik im Umgang mit verhaltensauffälligen SchülerInnen entwickelt. Sie leitet das Masterstudium "Provokativpädagogik" an der Donau-Universität Krems und hat eine "Lehrertankstelle" für Stressprävention eingerichtet. Im Interview mit derStandard.at erklärt sie, wie sie Lehrern bei der Stressprävention hilft und warum wir eine neue Pädagogik abseits von Disziplin und Laissez-faire brauchen.

derStandard.at: Wie funktioniert ihr Modell der "Provokativpädagogik"?

Perner: "PROvokativpädagogik" will nicht mit militaristischen Disziplinierungsansprüchen und -methoden auf unerwünschtes Verhalten von SchülerInnen – aber auch Eltern oder Kollegenschaft oder anderen "schwierigen" Personen – reagieren, sondern, indem vermeintliche Kampfangebote als Spielangebote umgedeutet werden. Dazu liefern wir die wissenschaftliche Fundierung, aber auch praxiserprobte Techniken, vor allem aus der psychoanalytischen Sozialtherapie, wie sie in den 1970er Jahren von Wiener PsychoanalytikerInnen entwickelt wurde. Dabei kann Humor eingesetzt werden – aber auch unerwartete Ernsthaftigkeit. Wichtig ist: anders reagieren als erwartet.

derStandard.at: Wie kann man auf Aggression mit Humor reagieren?

Perner: Üblicherweise kommt sofort das Niederbrüllen. Eine Möglichkeit ist, sich naiv zu stellen und zu sagen: "Heißt das jetzt, du willst überhaupt nichts mehr machen?". Oder man sagt: "Ich merke schon, heute freut es dich nicht. Kann ich irgendetwas tun, um dich aufzuheitern?". Also mit einem Charme, aber einem übertriebenen Charme, zu reagieren und klar zu machen: Wir spielen jetzt. So fordert man die Kreativität der Jugendlichen heraus. Und die sind kreativ.

Man nennt Verhaltensaufälligkeiten ja heute beschönigend "verhaltenskreativ". Kinder und Jugendliche ahmen die Fernseh- und Computerhelden nach – und die Lehrkraft steht dazu in Konkurrenz. Daher müssen LehrerInnen heute ein anderes als ein Kampfrepertoire haben, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sonst bekommen sie entweder Krieg oder die Kids zappen weg, wenn nicht mit dem Handy, dann in die sogenannte "Nebenrealität".

derStandard.at: Sie schlagen auch einen "Verzicht auf Dominanzgesten" vor. Was genau meinen Sie damit?

Perner: Dominanzgesten bedeuten, dass man von vornherein autoritär auftritt. Wenn jemand sich nicht unterwirft, dann gibt es Androhungen – nicht nur verbal, das gibt es auch körpersprachlich. Dominanzgesten haben nur den Sinn, Sieger zu sein. Das hilft nicht. Bei den Disziplinbegeisterten kommt dann oft die Argumentation, dass sei eine Vorbereitung auf das Leben. Das Leben bringt ohnedies die Herausforderungen – was junge Menschen dazu brauchen, ist einfühlsame Begleitung und Stützung – nicht jemanden, der ihnen Schmach zufügt, damit sie lernen, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten. Das ist nicht Prävention, das ist Sadismus. Und wohin das führt, haben wir vor 75 Jahren im Dritten Reich gesehen.

In meiner Jugend in den 50er und 60er Jahren wäre keiner auf die Idee gekommen in einem Gespräch "Scheiße" oder "Arsch" zu sagen. Das hat in den 70er Jahren begonnen, die Sprache ist immer fäkaler geworden. Heute ist das ganz normal und das führt dazu, dass die Umgangsweisen verrohen.

Ein Fall, der mir erzählt wurde: Ein Lehrer fragt den Schüler, ob er seinen Hausübung gemacht hat und der sagt "Leck mich am Arsch". Der Lehrer regt sich furchtbar auf und sagt, "Das kann ich mir doch nicht gefallen lassen!" Ich sage: Doch – das kann er. Es ist eine Möglichkeit unter vielen – genau so wie Strafen. Er kann aber auch demonstrativ innehalten und "sinnend" sagen: "Dieses Angebot werde ich nicht annehmen." Dann lacht die ganze Klasse und die Situation entkrampft sich. Anderenfalls hat er alle gegen sich.

derStandard.at: Es wird immer wieder behauptet, dass die "heutige Jugend" immer verhaltensauffälliger wird. Stimmt das? Die Jugend wird ja schon seit Jahrhunderten als "schlimmer" als die vorige bezeichnet...

Perner: Auch die Erwachsenen werden immer verhaltensauffälliger. Ich denke wir haben heute einfach nicht mehr diese Höflichkeitszwänge wie früher. Das hängt auch mit der Multikulturalität zusammen. Es gibt nach wie vor rigide Verhaltensmodelle, aber nur mehr im Einzelfall. Es gibt andere Kulturen, wo es wesentlich lockerer zugeht als bei uns. Damit sind wir heute konfrontiert. Es fehlen uns die Vorbilder und Verhaltensweisen, wie wir mit Jugendlichen umgehen, die sich nicht unterwerfen. Die Unterwerfungsbereitschaft, die die Erwachsenen haben, hat zu solchen Phänomenen wie dem Dritten Reich geführt, das wollen wir nicht. Aber sich überhaupt nicht zu kümmern, das ist der direkte Weg in die Verwahrlosung. Wir brauchen also eine andere Form und die muss man erst entwickeln.

derStandard.at: Jetzt zu einem anderen Projekt, der "Lehrertankstelle". Was ist das und wie funktioniert die Online-Beratung?

Perner: Eine Lehrkraft meldet sich auf der Homepage an. Eine Mitarbeiterin teilt der Person eine Nummer zu. Mit dem Code kann man sich einloggen und stellt anonym eine Frage zu einem konkreten Problem. Die Tankstelle wird mehrfach täglich von meinen MitarbeiterInnen, derzeit sind das sechs, gelesen. Die Person, die als erstes reagiert, beantwortet die Frage. Wenn es etwas ganz Heikles ist, werde ich angerufen.

derStandard.at: Welche Anfragen werden zum Beispiel gestellt?

Perner: Es werden Fragen zum Umgang mit Missbrauchsverdacht, Umgang mit verbalen Gewalttätigkeiten, Erpressungsversuche von den Eltern, Konflikte mit Kollegen und Kolleginnen gestellt. Es geht sehr stark um Kommunikation.

derStandard.at: Da können Sie auch helfen, obwohl Sie nicht wissen, wer das ist?

Perner: Kommunikation ist Kommunikation – und "Mängelrüge" deutet auf einen Konflikt. Bevor ein Konflikt auf die juristische Ebene verschoben wird, kann man ihn auf der kommunikativen, mediatorischen zu lösen versuchen, dazu braucht man aber das Wissen, wie Mediation funktioniert. Das haben alle meine MitarbeiterInnen, und unsere Aufgabe besteht auch darin, dies weiter zu geben. Der Sinn dabei ist, dass Lehrkräfte nicht ausbrennen, sich nicht allein gelassen fühlen, sondern schnell – am gleichen Tag noch – kompetente Unterstützung bekommen. Und einmal im Monat kann man am Tankstelle-live-Tag im Weinviertel, im Industrieviertel und in St. Pölten von uns kostenlos Supervision erhalten, ohne seine Anonymität aufgeben zu müssen.

derStandard.at: Glauben Sie, dass das Fernsehen dazu beiträgt, dass die Aggressionen im Klassenzimmer steigen?

Perner: Ja. Es ist durch die computergestütze Gehirnforschung erwiesen. Früher dachte man, dass Kinder nur "nachspielen". Heute können wir sichtbar machen, wie bei Beobachtung einer Gewalttat die gleichen Gehirnpartien aktiviert werden wie bei der Person des beobachteten Geschehens, mit der man sich identifiziert – das ist also gleichsam ein nicht geplantes Mentaltraining. Und die Identifikation gilt zumeist dem Täter – nicht dem Opfer. Das halten die wenigstens aus, denken wir nur an den Film "Shining".

Ich fordere schon seit 20 Jahren, dass im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nach Gewaltdarstellungen eine Identifikationsfigur, zum Beispiel Christina Stürmer, darauf hinweist, "Das war jetzt kein gescheites Verhalten, das hat die und die Folgen, und besser wäre ..." Konkret müsste man das dann mit PR-Spezialisten ausarbeiten.

derStandard.at: Auf der Homepage der Lehrertankstelle ist auch die Rede von Lehrer als "Elternersatzberuf". Woran liegt das?

Perner: Das liegt an mehreren Dingen. Auch die Eltern sind vielfach ausgebrannt. Sie haben Existenzängste. Aktivere bilden sich fort und verlieren Freizeit, weil sie so ihren Job erhalten wollen. Die Passiveren werden depressiv. Unterstützende Angehörige gibt es selten. Dann ist das Fernsehen der ideale Babysitter.

derStandard.at: Glauben Sie, dass es da auch einen Fehler im System gibt und eine Ganztagsschulen diese Probleme lösen würden?

Perner: Ich glaube, dass Ganztagsschulen sehr hilfreich wären. Es sollte aber die Möglichkeit für Eltern geben, die das nicht wollen, ihre Kinder herauszunehmen. Ich denke, dass viele Eltern dann hoffentlich so klug sind, dass sie die pädagogische Arbeit den Profis überlassen.
Es gibt ein Vorurteil: "Die Weiber wollen sich selbst verwirklichen und deshalb wollen sie die Kinder weg haben". Das stimmt überhaupt nicht. Das sind Unterstellungen der Männer, die sich nicht um ihre Kinder kümmern. Was einer Alleinerzieherin fehlt, ist vor allem eine Person, die mit ihr gemeinsam die Entscheidungen trifft. Alleinerzieherinnen brauchen vor allem im pfleglichen Bereich ihrer Kinder Unterstützung und die könnten eventuell Lehrkräfte in Ganztagsschulen geben. Aber dafür müsste man sie erst ausbilden, das lernt man auch im Masterstudium in Krems.

derStandard.at: Sie würden also die "Provokativpädagogik" auch in die Lehrerausbildung integrieren?

Perner: Teilweise unterrichten Absolventen des Studienganges schon an den pädagogischen Hochschulen. Es multipliziert sich bereits. Das sollte wirklich ein Teil der Regelausbildung sein und nicht privat finanziert werden müssen. (Lisa Aigner, derStandard.at, XX.9.2010)