Sie wurden lange Zeit von der Wissenschaft vernachlässigt. Doch Schildkröten können hervorragend navigieren und auch von anderen lernen - wenn sie Unterricht bekommen. Das haben Forscher in langwierigen Experimenten mit den Einzelgängern herausgefunden.

Foto: Julia Müller

Auf den ersten Blick wirken Schildkröten nicht besonders spannend: Sie haben keine spektakulären Farben, sie bewegen sich langsam und nicht besonders elegant - und als Intelligenzbestien sind sie auch nicht verschrien. Dass Letzteres unverdient ist und die gepanzerten Reptilien ganz erstaunliche Forschungsobjekte abgeben, haben Wissenschafter am Department für Kognitionsbiologie der Universität Wien kürzlich bewiesen.

Während die kognitiven Leistungen von Säugern und Vögeln seit Jahrzehnten intensiv beforscht werden, stellen Reptilien diesbezüglich einen weißen Fleck auf der Landkarte des Wissens dar. "Das wird erst seit circa fünf Jahren bearbeitet", erklärt Anna Wilkinson, die in Wien den Anstoß dazu gab. "Es gibt nur ein einziges anderes Institut - in den USA -, das dazu forscht."

Dabei verspricht dieser Zweig der Forschung tiefe Einblicke in die Evolution kognitiver Fähigkeiten: Reptilien, Vögel und Säuger haben sich vor rund 280 Millionen Jahren getrennt. Das ist viel Zeit, um unterschiedliche evolutionäre Wege zu gehen - auch auf geistigem Gebiet.

Orientierung im Raum

Eine basale kognitive Fähigkeit ist die Orientierung im Raum, und die klassische Testarena dafür ist ein sternförmiges Labyrinth. Anna Wilkinson verwendete ein achtarmiges, das am Ende jeden Armes eine gefüllte Futterschüssel aufwies, und als Versuchsobjekt ihre Köhlerschildkröte (Geochelone carbonaria) Moses.

Tatsächlich fand sich Moses in dem Labyrinth hervorragend zurecht: Er suchte nur sehr selten denselben Arm zweimal auf. Wirklich überrascht war Wilkinson jedoch erst, als sich herausstellte, dass er zwei Varianten der Navigation zur Verfügung hatte: Unter normalen Umständen orientierte er sich an den "Landmarken" im Versuchsraum. Als Wilkinson aber das Labyrinth mit einem dunklen Vorhang umgab, schaltete er auf eine andere Strategie um und besuchte systematisch reihum jeweils den nächsten Arm.

Die Navigation anhand von Landmarken erfordert eine Art geistiger Landkarte, und sie wurde unter anderem an Ratten nachgewiesen. Ein Switch auf die simplere systematische Suche wurde an Säugern jedoch noch nie beobachtet. Eine Wiederholung des Verdunkelungsexperiments mit Perleidechsen als Versuchstieren brachte dasselbe Ergebnis, obwohl deren Lebensweise völlig anders ist als jene der Köhlerschildkröte. Das lässt darauf schließen, dass es sich dabei um ein altes Erbe und nicht etwa um eine erst in den letzten Jahrmillionen erworbene Strategie handelt.

Eine Fähigkeit, die lange Zeit Menschen und Menschenaffen vorbehalten schien, ist, dem Blick eines anderen folgen zu können. Mittlerweile ist sie auch für einige Nichtprimaten wie Hunde, Ziegen oder Delfine und einige Vögel belegt. Über Reptilien wusste man diesbezüglich jedoch gar nichts.

Mit finanzieller Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF machten sich Wilkinson und ihre Kollegen daran, dieses Dunkel zu lüften. Versuchstiere waren wieder Köhlerschildkröten, diesmal jedoch acht Stück. Die Versuchsanordnung bestand aus einem Käfig, der in der Mitte durch eine Wand geteilt war. Die untere Hälfte dieser Abtrennung bestand aus Maschendraht, während der Oberteil aus undurchsichtigem Material war. In jede Hälfte des Behälters kam eine Schildkröte.

Nun wurden mit einem Laser-Pointer Lichtpunkte auf die Trennwand projiziert, die nur eine Schildkröte sehen konnte, wenn sie den Kopf hob. Und siehe: Die Schildkröte im anderen Abteil hob dann auch den Kopf. Damit war der erste Nachweis für Blickfolgen bei Reptilien erbracht.

Wirklich ans Eingemachte gingen Wilkinson und ihre Kollegen mit Experimenten zu sozialem Lernen, also betreffs des Lernens von anderen. Sie konfrontierten ihre Schildkröten mit einem so genannten Detour-Problem: Jedes Tier wurde vor ein V-förmiges Drahtgeflecht gesetzt, hinter dem sich eine Schüssel mit Erdbeeren oder anderen begehrten Früchten befand. Obwohl die Schildkröten sich redlich bemühten, den Leckerbissen zu erreichen, kam kein einziges Exemplar auf die Idee, um die Barriere herumzugehen. Mit großer Geduld (es brauchte sechs Wochen) gelang es den Forschern schließlich, einer - Wilhelmina - diesen Weg beizubringen. Danach demonstrierte Wilhelmina einer Hälfte der anderen Schildkröten, die die Aufgabe vorher noch nie versucht hatten, wie man zu dem Obst kommen konnte, während der Rest es ohne Unterricht probierte.

Soziale Lernfähigkeit

In zwölf Versuchen blieben alle Tiere, die auf sich selbst gestellt waren, erfolglos, während alle, die eine Demonstration erhielten, das Ziel erreichten - zwei davon sogar im ersten Anlauf. Damit kommt auch eine basale Hypothese der Kognitionsbiologie ins Wanken: nämlich dass soziales Lernen eine Anpassung an das Gruppenleben darstellt. Köhlerschildkröten sind nämlich in freier Wildbahn ausgesprochene Einzelgänger, die sich nur zur Paarung treffen und keinerlei Brutpflege betreiben. Auf soziale Kompetenz könnten sie also getrost verzichten.

Möglicherweise ist es eine ganz allgemeine Lernfähigkeit, die hier zu Buche schlägt. "Diese Tiere sind vom ersten Augenblick an sich selbst überlassen. Sie müssen alles selbst lernen - und das schnell", erklärt Wilkinson. Dafür scheinen sie hervorragend gerüstet zu sein. (Susanne Strnadl/DER STANDARD, Printausgabe, 22.09.2010)