Thilo Bode: "In manchen Fällen geht Fehlinformation soweit, dass wir das als Körperverletzung durch Irreführung bezeichnen."

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Physalistee ohne Physalis, Apfel-Bio-Limonade, die niemals Obst gesehen hat, "gesunde" Pausensnacks mit dem Nährwertgehalt einer Schokoladen-Schlagoberstorte, zuviel Fett, Zucker, Salz und irreführend ausgewiesene Zusatzstoffe in den Nahrungsmitteln: Die Verbraucher werden von der Lebensmittelindustrie nach Strich und Faden getäuscht, sagt Thilo Bode. In seinem neuen Buch "Die Essensfälscher" schaut Bode hinter die Kulissen der Hersteller und versucht zu zeigen, was hinter den Produkten wirklich steckt. Im Interview mit Regina Bruckner erzählt er, was ihn ärgert und warum er in manchen Fällen von Körperverletzung durch Irreführung spricht.

derStandard.at: Lieber Herr Bode. Was haben Sie denn heute gefrühstückt?

Thilo Bode: Tiefgefrorenes Rührei. Nein, Scherz beiseite. Aber das gibt es wirklich. Zum Beispiel wird das in der Deutschen Bahn unter dem schönen Namen "Rührei naturell" angeboten.

derStandard.at: Ihr neues Buch heißt "Die Essensfälscher". Die Verbindung zum Geldfälscher liegt da nicht ganz fern. Gehen Sie mit der Lebensmittelindustrie nicht etwas hart ins Gericht?

Bode: Nein, überhaupt nicht. Interessant ist, dass die Industrie schon so argumentiert wie bei den Geldfälschern – nämlich man müsste den Leuten beibringen, wie sie die falschen Banknoten erkennen. Wir sind aber der Meinung, es darf kein gefälschtes Essen in Umlauf gebracht werden. Im Unterschied zum gefälschten Geld ist es zwar meistens legal, was die Industrie macht, irreführend ist es dennoch.

derStandard.at: Sie werfen der Lebensmittelindustrie vor, dass sie die Verbraucher nach Strich und Faden betrügt. Wieso spielt der Konsument da mit?

Bode: Das ist ein Kampf um das Verbraucherleitbild: Welche Vorstellung haben wir vom Verbraucher? Das ist noch nicht geklärt. Die Industrie und die Politik gehen von der Vorstellung aus, dass es der Verbraucher ist, der alles wissen muss. So wie der promovierte Lebensmittelchemiker und ausgebildete Lebensmitteljurist, der sich am Tag sechs Stunden im Supermarkt aufhält und die Produkte studiert. Wir sagen, man muss voller Vertrauen in den Supermarkt gehen, sich schnell entscheiden und zwischen unterschiedlichen Qualitäten auswählen und vergleichen können. Und das ist heute nicht der Fall. Ob der Konsument mitspielen will oder nicht, er hat gar keine Wahl – die Spielregeln machen andere.

derStandard.at: Wie sind wir soweit gekommen, dass wir nicht wissen, was wir essen?

Bode: Das geht wohl damit los, dass sich die Produktqualität dem Verbraucher nicht unmittelbar erschließt. Wenn Sie ein Lebensmittel vor sich haben – ob verarbeitet oder nicht – können Sie es dem Produkt nicht ansehen oder schmecken, wo es herkommt, wie es hergestellt worden ist, welche Zusatzstoffe drin sind und wie die wirken.

derStandard.at: Im Kopf der Konsumenten kommt die Milch wahrscheinlich noch von der Alm und der Spinat aus dem Garten.

Bode: Der Konsument erfasst es falsch, weil er noch Vorstellungen von der Lebensmittelindustrie hat, wie sie gar nicht mehr existiert. Und in der Kombination mit Regeln, die zugunsten der Industrie gemacht worden sind, hat sich da ein Zustand entwickelt, den wir als legalen Betrug bezeichnen. Theoretisch ist das europäische Lebensmittelrecht sehr gut, denn es konstatiert ganz klar die zwei Säulen Täuschungsverbot und Gesundheitsschutz. Aber Regelungen auf der untergesetzlichen Ebene sorgen dafür, dass wir nicht richtig informiert werden und die Industrie ihre Täuschungsstrategien nahezu unbehelligt verfolgen kann. Das ist auch ein Problem für die Hersteller. Die können eigentlich gar nicht ehrlich über ihre Produkte informieren – wenn sie das tun, haben sie gegenüber den überhöhten, haltlosen Werbeversprechen der Konkurrenz keine Chance am Markt.

derStandard.at: Es gab den Versuch eine Ampelkennzeichnung zu etablieren. Wäre die in Ihrem Sinne gewesen?

Bode: Die Nährwert-Ampel versteht in der Tat jeder. Sie funktioniert auf einen Blick, ohne Prozentrechnen, ohne Brille, sogar ohne Sprache. Wir müssen solche Informationssysteme haben, die die gesamte Bevölkerung versteht. In Großbritannien ist die Ampel auf tausenden Produkten schon eingeführt. Dort ist wissenschaftlich belegt, dass die Konsumenten sie verstehen, und zwar unabhängig vom Bildungsstandard. Wenn man etwas gegen Übergewicht und Fettleibigkeit tun will, ist das eine wichtige Voraussetzung.

derStandard.at: Die Ampelkennzeichnung hätte Auskunft über die Nährwerte geben sollen. Mit welchem Ziel?

Bode: Die verarbeiteten Produkte enthalten zu viel Fett, Zucker oder Salz. Der Nährstoffegehalt ist aber nicht unmittelbar ersichtlich. Deswegen ist die Ampel so wichtig und für die Industrie andererseits so gefährlich. Im Europaparlament gab es leider keine Mehrheit dafür, aber jetzt wird sich der Ministerrat mit der Ampel befassen. Der Ministerrat hat die große Chance, eine so genannte verbindliche Öffnungsklausel ins Gesetz hineinzubringen. Das heißt, dass man als Nationalstaat – zusätzlich zu der europäischen Deklaration, die kein Mensch versteht, die Möglichkeit hat, verbindlich die Ampel einzuführen. Österreich hat hier eine Schlüsselposition. Es ist das einzige Land in Europa, das für das Thema eintritt. Die Hoffnung auf eine Ampel hängt an den Österreichern. Wenn heute der österreichische Minister in Brüssel sagt, wir wollen national die Ampel einführen und brauchen dafür eine Öffnungsklausel, so hat das enormes politisches Gewicht.

derStandard: Zurück zu den Nährstoffen. In Österreich gab es dieser Tage wieder eine Studie die besagt, dass die Verbraucher immer kugelrunder werden. Sind die Essensfälscher daran beteiligt?

Bode: Die Industrie ist daran natürlich nicht alleine – aber mit schuld. Wenn sie etwa den Kindern scheinbar gesunde Pausensnacks oder Frühstückscerealien anbietet, die oft Zuckerbomben sind. Frühstücksflocken von Nestlé werden mit Vollkorngarantie und als Fitness Fruits beworben, nicht unmittelbar erkennbar ist aber, dass 35 Prozent Zucker drin sind. Vorne müsste also eigentlich ganz groß drauf stehen "Zuckergarantie". Wir haben eine rapide Zunahme des Übergewichts und der Fettleibigkeit und sogar Altersdiabetes II bei Kindern. In Deutschland allein betragen die Kosten falscher Ernährung für das Gesundheitssystem 70 Milliarden Euro im Jahr, das ist die Hälfte des Umsatzes der Lebensmittelindustrie. Wenn die Industrie jetzt sagt, die Leute sollen sich einfach mehr bewegen, ist das eine infame Ausweichstrategie. Um die überzähligen Kalorien abzutrainieren, die ein Kind heute bekommt, müsste es viele Stunden joggen.

derStandard.at: Die Lebensmittel-Industrie lässt sich Ihren Aussagen zufolge die Werbung für "unser Futter" einiges kosten.

Bode: Allein in Deutschland fast drei Milliarden Euro im jahr, sogar mehr als die Autoindustrie.

derStandard.at: Andrerseits wissen wir ja, dass uns Werbung verführen will...

Bode: Wenn Sie Autofahren und dann suggeriert die Werbung, wenn sich ein junger fescher Wiener einen Sportwagen kauft, laufen ihm die Frauen hinterher, dann weiß man, das gehört zur Illusion. Anders ist das, wenn ich überzuckerte Produkt als Fitnessprodukt vorgesetzt bekomme. Oder eines der Lightprodukte kaufe, das zwar weniger Fett, dafür aber umso mehr Salz enthält: Hoher Blutdruck ist eine grassierende Volkskrankheit geworden. Oder wenn auf einer Packung harmlos Zitronensäure draufsteht, und es sich dabei um einen Zusatzstoff handelt, der ganz stark die Zähne angreift, nämlich E 330. Solche Produkte können doch nicht als gesund beworben werden! In manchen Fällen geht das soweit, dass wir das als Körperverletzung durch Irreführung bezeichnen.

derStandard.at: Nach allem was Sie sagen, hat man den Eindruck die Intention der Lebensmittelindustrie ist es, uns möglichst viel Schlechtes in möglichst schönen Kleidern unterzujubeln?

Bode: Bei uns können sich mittlerweile – mit wenigen Ausnahmen – alle satt essen. Die Lebensmittelindustrie hat daher das Problem, dass sie an die Grenzen stößt. Jetzt müssen natürlich neue Wachstumsfelder erschlossen werden. Zum Beispiel durch Produkte mit angeblichem Gesundheits-Zusatznutzen, das so genannte Functional Food, Actimel zum Beispiel. Dann gibt es diese Heimatgeschichten mit der Illusion wie von Oma gemacht, dann gibt es die Gourmetprodukte, die Fitnessprodukte. Der Verbraucher erhält nichts Innovatives. Die Produkte sind meistens schlechter und teurer. Selbst bei Bio werden die Regulierungslücken ausgenützt.

derStandard.at: In Österreich kommt mittlerweile Bio recht gut an. Kann man sich die Mehrkosten gleich sparen?

Bode: Die ökologische Landwirtschaft ist ja eine gute Sache. Aber bei den verarbeiteten Produkten ist es möglich, die Käufer zu täuschen. Wenn Actimel eine Täuschung ist, ist Bioactimel – aus ökologischer Milch hergestellt – lediglich die ökologische Variante der Verbrauchertäuschung. Carlsberg Heimat Apfel und Birne – eine Limonade, die übrigens nach Verbraucherprotesten aufgrund unserer Veröffentlichung vom Markt genommen wurde - hatte noch nie einen Apfel oder eine Birne gesehen und durfte sich bio nennen, nur weil Zucker und Gerstenmalz aus biologischem Anbau waren. Bei solchen Produkten muss von staatlicher Seite die nötige Transparenz geschaffen werden.

derStandard.at: Sie nennen auch Firmennamen. Wer sind denn die größten Essensfälscher?

Bode: Die Konzerne haben ganz unterschiedliche Strategien. Ferrero als Süßwarenkonzern, der mit der Milchschnitte ein Produkt vom Nährwertgehalt einer Schoko-Sahnetorte im Gewand einer Zwischenmahlzeit an die Konsumenten bringt. Damit werden die Kinder richtig gemästet, mit Spielen und mit Punkten angelockt, und gleichzeitig sponsert Ferrero das Kindersportabzeichen in Deutschland. Das ist infam. Nestlé macht das etwas vornehmer. Die finanzieren das Lesefrühstück von der Stiftung Lesen in Deutschland, aber gleichzeitig produzieren sie diese völlig überzuckerten Frühstückscerealien. Das sollen sie als Süßigkeiten verkaufen und nicht als Fitnessprodukt. Im Grunde müssen alle Konzerne so agieren – denn wer ehrlich ist, kann seine Produkte am Markt viel schlechter verkaufen.

derStandard.at: Wie bereitwillig geben Ihnen die Konzerne Auskunft?

Bode: Wir kommen auf verschiedene Weise zu den Informationen. Wir fragen auch die Firmen selbst. Manche Informationen gibt es aber gar nicht. Wenn wir bei irgendeinem großen Hersteller fragen, welche Aromen die verwenden und wo die herkommen, dann gibt es keine Auskunft. Das ist deswegen unglaublich, weil unsere Nahrungsmittel zunehmend mit Stoffen aus dem Labor aromatisiert werden. Der Verbraucher ist auf dem Lebensmittelmarkt bislang ziemlich machtlos. Nehmen Sie die Gesetze, die die Zusatzstoffe regeln: Man darf etwa auf ein Produkt schreiben "ohne Geschmacksverstärker", obwohl welche drinnen sind. Hefeextrakt muss nicht als Zusatzstoff deklariert werden, enthält aber Glutamat – das ist doch absurd. Der Verbraucher hat da keine Chance, etwas dagegen zu tun.

derStandard.at: Sie rufen die Konsumenten, auf doch etwas zu tun und Essensretter zu werden. Wie erfolgversprechend ist ein Engagement?

Bode: Unsere Mitglieder und Unterstützer haben schon einiges erreicht. Die Carlsberg Bio-Limonade wurde vom Markt genommen. Auch der österreichische Hersteller Pfanner hat reagiert. Die haben auf Grund des Drucks in ihren Physalistee endlich Physalis hineingetan. Das alles sind nur einzelne Verbesserungen, aber das ist auch erst der Anfang. Je mehr wir werden, umso mehr können wir bewegen. (Regina Bruckner, derStandard.at, 22.9.2010)