Ob die Bäume der FPÖ am Wiener Wahltag in den Himmel wachsen, wird sich weisen. Wir Beobachter müssen uns aber jetzt schon den Vorwurf gefallen lassen, den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen zu haben. Denn von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt haben die Freiheitlichen in den vergangenen Monaten just bei einem ihrer bisherigen Kern-Themen eine sensationelle inhaltliche Wende vollzogen: Zur Frage "Umgang mit Kriminalität" ist H.-C. Strache vom beinharten "Law and order"-Saulus zum supersoften "Christian Broda des dritten Lagers"-Paulus mutiert. Sein diesbezügliches Damaskus-Erlebnis dürfte im Frühjahr stattgefunden haben, als vom Innenministerium die aktuellen Daten über Ausländerkriminalität veröffentlicht wurden. Auf Platz 1 der Verbrechensstatistik: die Deutschen.

Eine Erkenntnis, aus der man als Führer einer traditionell deutsch-nationalen Partei seine Schlüsse ziehen muss. Strache hat sie gezogen. Zunächst, indem er Uwe Scheuch in den Parteivorstand holte - einen Mann, gegen den zum einen in Ungarn ein Haftbefehl wegen Verdachts auf Versicherungsbetrug vorlag und zum anderen die österreichische Staatsanwaltschaft wegen Untreue und Amtsmissbrauchs ermittelt. Dann, als er sich schützend vor seine Chefsekretärin Elisabeth K. stellte. Diese soll zuvor den Türlsteher eines Wiener Bordells mit Mord bedroht haben, wobei sie als Begleitschutz den bekannten Neonazi Gottfried Küssel an ihrer Seite hatte. Das unüberhörbare Schweigen zur Verhaftung eines mutmaßlichen Messermörders und ehemaligen RFJ-Spitzenkandidaten überrascht da nicht mehr.

Die humanitäre Botschaft hinter diesem Schwenk ist klar: Wer mit dem Gesetz in Konflikt gerät, hat eine zweite Chance verdient. So betrachtet nimmt es nicht wunder, dass Strache im Standard-Interview flammend für Silvio Berlusconi Partei ergreift - den einzigen Staatschef innerhalb der EU, den man offiziell als Verbrecher bezeichnen darf. Und auch die umstrittene "Wiener Blut"-Wahlkampagne erscheint nun in völlig neuem Licht. Es handelt sich hierbei in Wahrheit um eine Referenz an den gleichnamigen Falco-Song aus den späten 80er-Jahren, der erste und einzige Top-Hit aller Zeiten, dessen Strophen in Wiener Ganovensprache getextet sind. Seine Anfangszeilen werden dieser Tage in Straches Umgebung immer wieder leise angestimmt: "Hearst was hat der Bua? Was braucht er für a Medizin?"(Florian Scheuba/DER STANDARD, Printausgabe, 18./19.9.2010)