Zufällige Begegnungen und ein einzelgängerischer Ausreißer: Caspar Pfaundlers "Schottentor"   folgt Passanten durch den Alltag, Ludwig Wüsts "Koma"  einem schuldbeladenen Familienvater.

Foto: Filmladen
Foto Stadtkino

Wien - Am Anfang von "Schottentor" hört man aus dem Off das Meer rauschen. Eine Szene wird beschrieben, der Sprecher ist im ersten Bild zu sehen. Er entwirft in Worten eine Meeresansicht - aber diese für den Film zu drehen, sagt er, habe er sich nicht leisten können.

Der Mann im Bild ist Regisseur Caspar Pfaundler selbst - gleich wird er direkt an seine erste Figur übergeben, und das fiktive Geschehen in der und um die Wiener Straßenbahnhaltestelle mit Namen Schottentor wird beginnen. Zugleich wird an dieser Stelle auch auf reale Produktionsbedingungen verwiesen: "Schottentor", Pfaundlers zweiter Kinospielfilm nach "Lost & Found" (2001), hatte ein Budget von knapp 200.000 Euro (vergleichbare Projekte kosten gut und gern das Zehnfache).

Im Presseheft heißt es dazu: "Low-Budget hat auch seine Vorteile, es ist reine Selbstausbeutung, aber ich musste niemandem gefallen, und es kam meinem Konzept des offenen Drehens natürlich sehr entgegen." Dieses Konzept ist mit dem Inhalt des Films untrennbar verbunden: "Schottentor" beobachtet und verknüpft die Leben einer Handvoll Figuren, die an diesem Ort arbeiten oder ihn regelmäßig queren. Die Männer und Frauen verbindet innere Unruhe und Traurigkeit.

Episodischer Reigen

Kunststudentin Claudia (Gerti Drassl) beispielsweise, die als Blumenhändlerin jobbt, plagen zwischenmenschliche Probleme und eine gewisse Orientierungslosigkeit. Für den wohnungslosen Herrn Altmann (Hannes Thanheiser) wird seine gesundheitliche Verfassung immer prekärer. Simons (Markus Westphal) berufliche Situation hat sich gerade verschlechtert. Dies und mehr entfaltet sich in kleinen Episoden. Der Ort wird dabei auf ganz eigene Weise erfahrbar: Man dringt in öffentlich nicht zugängliche Bereiche vor. Vor allem nimmt man das untere Rondeau in den großformatigen, langen Einstellungen ganz neu, in einer gewissen baulichen Großzügigkeit wahr.

Wenn Peter (David Oberkogler) die Rolltreppe nach oben nimmt, fährt Simon an ihm vorbei hinunter. Nicht nur dann hat man den Eindruck, dass die Inszenierung die Erzählung überformt, Beiläufiges zu absichtsvoll erscheint. Auch die Textlastigkeit - in inneren Monologen - spielt dem zu. Nicht nur das, was aus Kostengründen nicht gezeigt werden kann, wird in Sprache übersetzt. Umgekehrt stellt Schottentor Zeitgenossen, Milieus und Erfahrungen in den Mittelpunkt, die man im heimischen Kino sonst vermisst. All das macht ihn zu einer nicht in jedem Punkt geglückten, aber interessanten Kinoerfahrung. Budgetknappheit bedeutet hier Einfallsreichtum - bis hin zu zarten Animationen von Dietmar Hollenstein.

Auch Regisseur Ludwig Wüst ist eine Ausnahmeerscheinung in der österreichischen Produktionslandschaft: ein irritierender Sologänger. Wüst, seit vielen Jahren als Theaterregisseur aktiv, hat in den letzten zehn Jahren gerade einmal drei mittellange Filme - darunter "Ägyptische Finsternis" nach Ingeborg Bachmann - gedreht. Seinem ersten Spielfilm hätte er keinen besseren Titel geben können: "Koma".

Gewalt-Bilder

Wollte man diesen Film auf seine Handlung herabbrechen, müsste diese in etwa so lauten: Hans (Nenad Smigoc) wohnt mit seiner Frau und seinem jugendlichen Sohn in einem Vorort von Wien. Während zu Hause die letzten Vorbereitungen für seinen fünfzigsten Geburtstag getroffen werden und die ersten Verwandten eintreffen, fährt Hans an einen nahen Fluss, setzt sich ans Ufer und raucht. Hans arbeitet als Taxifahrer, aber nie wird man einen Fahrgast in seinem Wagen sehen - dafür Bilder aus seiner Vergangenheit in Form eines Snuff-Videos, die sich sein Sohn im Internet ansieht. Dass man Hans auf den Aufnahmen nicht klar erkennen kann, aber den Zusammenhang mit seinem gegenwärtigen Verhalten - und seinem Schweigen - ahnt, machen die gewalttätigen Bilder umso schrecklicher.

Entstanden mit minimalem Budget, ist "Koma" ein Film, der seinem dokumentarischen, improvisierenden Gestus zum Trotz in seiner Kameraarbeit und Schauspielerführung merklich Zeit in Anspruch genommen hat. Gefilmt mit digitaler Handkamera wirkt jede Einstellung wie eine Miniatur des großen Geheimnisses. Immer wieder verdecken Türen und Wände die Sicht oder rücken Details in den Vordergrund, wenn etwa Wespen über die Reste der Geburtstagstorte herfallen - die Feier hat als sinnlos gewordenes Ritual ohne Hans stattgefunden. Bilder wie diese sind nicht weniger schrecklich als das Snuff-Video, das Hans unabsichtlich zum Geschenk gemacht wird.

War der internationale Erfolg des österreichischen Spielfilms rückführbar auf Bilder von Entfremdung, sozialer Kälte und Determinismus, lässt "Koma" diese bereits zum Markenzeichen gewordene Düsternis hinter sich - und geht noch einen Schritt weiter: Wüst versucht erst gar nicht, den Ursachen für die Gewalt hinter den Fassaden der Kachelfliesen auf den Grund zu gehen. Denn aus diesem komatösen Zustand gibt es kein Erwachen. (Michael Pekler, Isabella Reicher /DER STANDARD - Printausgabe, 17. September 2010)