Wien - Das Musical entstand als letztes der großen Genres im Kino - benötigte es doch für seine Geburt die Voraussetzung des Tons. Wie ein Kind, das ein wenig spät kommt, wächst es dann mit ungewohnten Freiheiten auf: Es kennt keine Einschränkungen, was die Einheit von Zeit und Schauplatz betrifft; es wechselt mühelos von der Realität in Traumlandschaften; es löst den Anker der Schwerkraft und lässt seine Figuren im Tanz in andere Sphären übergehen.
Das Singen und Tanzen im Film gehört seit den späten 20er-Jahren zu den fixen Bestandteilen des Kinos, die in Schüben regelmäßig (und aktualisiert) wiederkehren. Die Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum setzt schon mit ihrem Titel die musikalischen Aktivitäten ins Zentrum: In der von Andrea Pollach, Isabella Reicher und Tanja Widmann kuratierten Schau geht es denn auch weniger um einen Genrekanon.
Vielmehr machen sie ein weites zeitliches und geografisches Bezugsfeld auf, in dem Filme über musikalische Bilder kommunizieren. Ein im Zsolnay-Verlag erschienenes Buch verdichtet diese Forschung noch mit wichtigen, erstmals auf Deutsch zugänglichen Texten sowie Originalbeiträgen zum Thema.
Am Beginn stehen unter anderem die Arbeiten des US-Choreografen Busby Berkeley, dessen spektakuläre Revuen in den 30ern Amerikanern nicht nur die Depression vergessen halfen, sondern noch Künstler wie Matthew Barney inspirierte: Dames (1934, Co-Regie: Ray Enright) ist eines der klassischen "Puttin'-on-stage-" oder "Show-Musicals", in dem der Weg zur Premiere eines vermeintlich freizügigen Stückes zum Gegenstand einer Komödie wird.
Ornament der Masse
Die leichtfüßig inszenierte Fabel ist hier eher Nebensache: Erst die Show wird zum Ereignis, da Berkeley die Darstellerinnen, aufgenommen in so genannten "top shots", zum Ornament umgestaltet - die Bewegung damit erstmals von der Position der Kamera abhängig macht. Berkeleys kaleidoskophafte Arrangements, die den Körper entindividualisieren, treiben den Film in die Nähe der (freilich animierten) abstrakten Malerei.
Das Subgenre des "Show-Musicals" erwies sich als eine der zählebigsten Formen: Die britische Variante The Young Ones (1961) setzt einerseits auf die leicht schmierigen Starqualitäten Cliff Richards und damit auch auf Rock 'n' Roll, der zuletzt einen Orkan von Teen-Screams provoziert. Umgekehrt lässt der Film von Sidney J. Furie den Generationen (auch zu einem Zielpublikum) vereinenden Plot in eine eklektizistische Musicalshow münden.
Starorientiert war das Genre schon immer, Ausstattung und Farbdramaturgie wurden mitunter ganz den Fähigkeiten der Performer unterstellt: Die vom kleinen Studio RKO produzierten Musicals mit Fred Astaire und Ginger Rogers sind berühmt für lange Kamerabewegungen, die die Tanzbewegung aufnehmen, Vaudeville, Steppen, selbst Ballettelemente vereinen.
In einer der schönsten Arbeiten des Paares, Swing Time (1936), lösen sich bei Astaires "blackface"-Nummer "Bojangles of Harlem" seine Schatten und beginnen sich eigenmächtig mitzubewegen. Das Musical ist auf eine regelrechte Verweltlichung der Bewegung aus, wie der Philosoph Gilles Deleuze einmal schrieb, die nicht länger vom Subjekt ausgeht, sondern dieses vielmehr mit sich reißt.
Farben von MGM
Was den Einsatz von Farben anbelangt, waren vor allem die überbordenden MGM-Musicals stilprägend: In den Technicolor-Filmen von Produzent Arthur Freed und Regisseur Vincente Minnelli finden Story und Musiknummern zur noch engmaschigeren Einheit.
In ihrer neben The Band Wagon (1953) vielleicht bekanntesten Arbeit, Meet Me in St. Louis (1944), wird zu Kriegszeiten nochmals ein nostalgisches Familienidyll in der Kleinstadt beschworen. Postkartenansichten stehen hier am Anfang der Akte, färben sich, der Jahreszeit entsprechend, plötzlich ein, geraten in Bewegung: Minnelli malt ein Traumbild Amerikas, in dem Judy Garland den "Trolley Song" trällert und Schneemänner geköpft werden, weil sie die Hitze von New York nicht überleben würden.
Der MGM-Stil findet sich als Paraphrase noch in Jacques Demys Les demoiselles de Rochefort (1967), wenn Gene Kelly darin Fran¸coise Dorléac auf der Straße betört. Demys Filme sind freilich weniger Musicals als modernisierte Volksopern, in denen die Erzählung in Liedern aufgeht - die musikalische Situation überlagert die Welt: In Les demoiselles ... wird auf dem Stadtplatz eine Bühne aufgestellt, obgleich die gesamte Stadt schon längst eine solche ist.