Wien/Grafenegg - Die Zeit ist ein Rad, es dreht sich und dreht sich und macht Anfang und Ende zu Nachbarn. Während am Sonntag in Grafenegg, dem Hortus musicus an der S5, die Saison mit einem spannenden Zusammenwirken von Nikolaus Harnoncourt, Lang Lang und den Wiener Philharmonikern zu Ende ging, hatte sie wenige Tage zuvor im Musikverein, dem Parnass des Kontinents Klassik, mit einem klug konzipierten viertägigen Schumann-Gastspiel des Gewandhausorchesters Leipzig und Riccardo Chailly gerade begonnen.

Kit Armstrong, der feingliedrige Hochbegabte und Brendel-Schützling, hat bei seinem Musikverein-Debüt Schumanns Klavierkonzert in einer Form fast völliger Tadellosigkeit präsentiert - einer Tugend, die bei der Interpretation einer Gefühlskosmen durchrasenden Per-aspera-ad-astra-Rakete, wie es dieses Werk darstellt, allerdings auch als Mangel hätte empfunden werden können.

Überreiches Leben

An der Seite Thomas Angyans, des freundlichen Musikverein-Patrons, sah man das gerade über den Limes der Volljährigkeit getretene Wunderkind dann von der Direktionsloge herab bestaunen, mit welcher kammermusikalischen Verve und Finesse die Leipziger dann Schumanns Frühlingssymphonie (in der durchhörbaren Retuschenfassung Gustav Mahlers) zu überreichem Leben erweckten.

Man wähnte sich in einem lebensprallen, farbenfrohen, fein gemalten Gemälde eines blühenden Landschaftsparks: Alle thematischen Haupt- und Nebenwege kamen einem klar zu Ohren, Gewandhauskapellmeister Riccardo Chailly folgte Schumanns vitalem, variablem Erzählfluss mit Beseeltheit in den lyrischen und Lust am Ausdruck in den dramatischen Passagen.

In Grafenegg selbst bot Nikolaus Harnoncourt dann eine furiose, fulminante, flammende siebente Symphonie Ludwig van Beethovens, die nur eine Seltsamkeit aufwies: Sie hatte drei letzte Sätze. Enthusiasmiert, entfesselt durch die erste Konzerthälfte und angetrieben vom Gottvater der Drastik, hatten sich die Wiener Philharmoniker mit unfassbarer, beglückender, Cellobögen malträtierender Energie in den triumphierenden Elan des Vivace gestürzt, im Scherzo noch eins draufzusetzen versucht, um dann im Finalsatz noch einmal eine allerletzte Intensitätssteigerung anzustrengen.

Ach, Lang Lang: Mit seinem freudvollen, befreienden, hochsensiblen Musizieren hatte der Global Player zuvor alle emotionalen Beschränkungsriegel der Orchestermusiker gesprengt. Mit allgewaltiger technischer Souveränität und der Kreativität und Unbeschwertheit eines Kindes hatte er mit Beethovens erstem Klavierkonzert (Harnoncourt hatte es mit einer rigorosen, fast zögerlichen Behutsamkeit begonnen) sowie dem Publikum und Orchester gespielt, schmetterlingshaft spontan in jedem Augenblick, verschwenderisch im Verschenken kostbarster, präzisester Gefühls- und Charakterskizzen.

Frappierend auch, dass man das Gefühl hatte, dass Lang Lang gerade einmal zehn Prozent seiner Fähigkeiten einzusetzen hatte, um diesen in jedem Moment überraschenden und doch auch stimmigen Beethoven aus dem Ärmel seines knapp geschnittenen Anzugs zu schütteln. Wann hatte man je so ein spielerisches Genie auf einem Konzertpodium erleben dürfen? Der Chinese ist aktuell wohl als eines der größten Geschenke der Zeit an ihre Kinder zu betrachten. (Stefan Ender, DER STANDARD/Printausgabe 14.9.2010)