Die Bilder verwundern. Lächelnde Ärzte, zuversichtliche Patienten, eine Frau im Lotussitz, ein Bild des Taj Mahal. "Besuchen Sie Indien, Ihrer Gesundheit zuliebe." Schnell findet man einen Preisvergleich. Eine Lebertransplantation kostet in Indien 69.000 in den USA 300.000 Dollar.
Globalisierung in Weiß. Privatkliniken in Schwellenländern bieten viele Behandlungen zu Niedrigpreisen an. Das Geschäft floriert. Schätzungen zufolge sollte die Branche in Indien bis 2012 gut zwei Milliarden US-Dollar erwirtschaften. Immer mehr Amerikaner, Briten, Russen nehmen solche Leistungen in Anspruch, entweder weil sie Therapien und Eingriffe in ihrer Heimat aus eigener Tasche zahlen müssen oder weil die öffentliche Gesundheitsversorgung dort mangelhaft ist. Aber auch Österreicher fliegen inzwischen nach Osten, nicht nur für preisgünstige Schönheitsoperationen. Das Bundesministerium für Gesundheit rät gleichwohl von solchen geplanten Auslandsbehandlungen ab, man habe in Österreich hohe Standards, "und die könne man für indische Krankenhäuser nicht garantieren", so ein Ministeriumssprecher.
An der Universität Heidelberg untersucht eine Arbeitsgruppe unter Leitung des indischen Sozialwissenschafters Laurent Pordié die Entwicklung des zweitbevölkerungsreichsten Landes als Reiseziel für Patienten. "Ein weites Feld", erklärt Pordié. Es geht um Wellness wie um Organhandel, Leihmütter und Zahnkorrekturen. Eines sei jedoch klar: Qualitativ könnten die Privatkliniken dort ohne weiteres mit westlichen Spitälern mithalten, dank kräftiger Investitionen. "Das Image der indischen Medizin hat sich in den vergangenen zehn Jahren komplett verändert." Mittlerweile kämen sogar immer mehr wohlhabende Europäer für Hüftgelenksoperationen nach Indien - nicht aus Kostengründen, sondern weil die Chirurgen so gut sind, betont Pordié. Vijay Bose zum Beispiel sei "einer der besten der Welt".
Kritiker des Medizintourismus in Entwicklungs- und Schwellenländern verweisen oft auf den sogenannten internen Braindrain, das Abwandern von gut ausgebildeten heimischen Ärzten aus öffentlichen Gesundheitssystemen hinein in den privaten Sektor. Dort seien die Gehälter nun mal höher, und die Armen hätten dadurch das Nachsehen. Dieses Problem gibt es allerdings nicht nur in solchen Staaten, betont Neilesh Patel von der unabhängigen Organisation HealthCare Tourism International. "In allen kapitalistischen Ländern ist Braindrain unvermeidlich", sagt er. Sogar in den USA und der EU lasse sich dieses Phänomen zunehmend beobachten, vor allem in ländlichen Regionen. Inwiefern jedoch die Privatspitäler in Metropolen wie Mumbai, Neu-Delhi und Hydarabad die medizinische Versorgung von Indiens Menschenmassen tatsächlich beeinflussen, darüber gibt es keine Daten. "Niemand will solche Studien finanzieren", klagt Patel. Doch natürlich gebe es Möglichkeiten, das Gesundheitssystem eines Landes zu fördern.
Nathan Cortez sieht das ähnlich. Der Jurist von der Southern Methodist University in Dallas/Texas gilt als ausgewiesener Experte für die komplexen Zusammenhänge in der Medizintourismus-Industrie. "Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Mehrheit in der indischen Bevölkerung keinen Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung hat."
Bringt Geld ins Land
In der näheren Zukunft könnte medizinischer Tourismus aber durchaus Fortschritte im öffentlichen Sektor bewirken, meint Cortez. Vorausgesetzt natürlich, die Regierung treffe die richtigen Entscheidungen. Vertreter der Branche selbst schlagen vorsichtige Töne an. Rajesh Rao, Geschäftsführer der Firma IndUShealth, ein Unternehmen, das als Vermittler zwischen Anbietern und Nutzern medizinischer Dienstleistungen arbeitet, verweist auf einen möglichen Nutzen von Privatkliniken für die Entwicklung der allgemeinen Versorgung. Die hohen Standards der Ersteren würden sich positiv auf die Ausbildung von Jungärzten auswirken. Doch auch hier gilt: Harte Zahlen fehlen.
Auch Laurent Pordié findet es schwierig, die sozialen Auswirkungen des Medizintourismus zu beurteilen. "Er bringt viel Geld ins Land." Und die Privatmedizin-Branche schaffe zahlreiche Arbeitsplätze. Eine weiter wachsende Kluft zwischen reicher und armer Medizin befürchtet Pordié dennoch. Das persönliche Forschungsgebiet des Wissenschafters sind therapeutische Innovationen im Medizintourismus, vor allem in einem eher "weichen" Sektor: Wellness und alternative Heilmethoden. Indische Kurhotels bieten Ayurveda und Yoga an. Vieles davon stammt aus der traditionellen indischen Heilkunst, diese wird nun aber nach Ansicht einiger konservativer Fachleute verfälscht und korrumpiert. Pordié ist nicht ihrer Meinung. Er spricht lieber von einer Weiterentwicklung, die auch wirtschaftlich große Chancen berge. "Es stellt sich die Frage, wie wir die ursprüngliche indische Medizin für Ausländer attraktiver machen können." Davon könnten viele profitieren.
Die wohl umstrittenste Form des Medizintourismus betrifft Organtransplantationen. Sie werden zurzeit von Pordiés Doktorandin Sinjini Mukherjee erforscht. Offiziell ist die kommerzielle Transplantation von Organen in Indien seit 1994 praktisch verboten.
Ausnahmen gibt es nur, wenn der Spender ein Familienangehöriger ist und nur Operationskosten in Rechnung gestellt werden. Doch es wird weiter verpflanzt, illegal eben. Es ist kaum möglich, zuverlässige Informationen über das Ausmaß des Organtransplantations-Tourismus zu bekommen, berichtet Mukherjee.
Die Grenzen der Legalität
Die Szene sei extrem verschlossen. "Grundsätzlich aber geht alles", sagt die junge Wissenschafterin düster, das sei nur eine Frage des Geldes. Arme verkaufen eine Niere für nur ein paar tausend Dollar. Der Organhandel sei allerdings dramatisch zurückgegangen, seit die indische Regierung 1994 solche Transplantationen per Gesetz verboten hat, meint Luc Noel, Beauftragter der Weltgesundheitsorganisation (WHO). "In Indien handeln Politiker meist besser als Ärzte." Zumindest wenn es darum gehe, das Allgemeinwohl zu schützen. "Organtransplantations-Tourismus basiert prinzipiell auf Ausbeutung", betont Noel. Man müsse alles unternehmen, um die Kommerzialisierung des menschlichen Körpers zu stoppen. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD Printausgabe, 13.09.2010)