Arbeiterinnen einer Fischfabrik (Privatbesitz). Weitere Dokumenter der österr. Gastarbeiter-Geschichte findet man unter www.gastarbajteri.at

Foto: www.gastarbajteri.at

Auf dem halbvergilbten Foto sind sechs junge Menschen zu sehen. Sie schauen lachend in die Kamera, am Tisch stehen halbleere Gläser, im Hintergrund flattern Kleider an einer provisorischen Wäscheleine. "Das Foto wurde in einem Innenhof in der Ottakringer Straße aufgenommen", erklärt Ana J., "hier haben wir alle am Anfang gewohnt". "Wir", das waren die damals knapp 25jährige Ana, ihr Bruder, eine Schwägerin und zwei junge Ehepaare. Das Foto wurde Mitte der Siebziger aufgenommen. Sie lebten bereits seit einigen Jahren in Wien und teilten sich drei Zimmer, die allesamt auf den kleinen Innenhof hinausgingen. Warmwasser gab es nicht. Man holte das Wasser von der Pumpe im Hof, und dann wurde es auf der Kochplatte erwärmt. Zum Duschen gingen sie ins nahegelegene Jörgerbad, erzählt Ana.

Substandard

Sogenannte Substandardwohnungen waren im Wien der Siebziger Jahre keine Seltenheit, dennoch lebten die ersten Gastarbeiter in wesentlich schlechteren Verhältnissen als der Rest der Bevölkerung. Aus einer Befragung unter jugoslawischen Gastarbeitern in Wien im Jahre 1974* geht hervor, dass rund die Hälfte in Wohngelegenheiten ohne WC und Wasseranschluss lebte, und weitere 40 Prozent lediglich über einen Wasseranschluss innerhalb der Wohnung verfügten.

In den reichen Norden

Die schlechten Wohnverhältnisse habe sie damals nicht als besonders belastend empfunden, erinnert sich Ana. "Im Winter war es allerdings recht finster und kalt in diesen Zimmern. Da hab ich unseren Holzofen zu Hause sehr vermisst." "Zu Hause", das war und ist für die Sechzigjährige ein bosnisches Dorf in der Nähe der kroatischen Grenze. Ana verließ es ein Jahr nachdem ihr älterer Bruder nach Wien aufgebrochen war. Für die fünf Kinder der Bauernfamilie, geboren im Zweiten Weltkrieg und in den Hungerjahren danach, war eine Arbeit im reichen Ausland eine gute Möglichkeit, um die Eltern und die eigenen jungen Familien zu unterstützen. Alle verließen das Dorf, gingen in den reichen jugoslawischen Norden nach Slowenien, nach Österreich und in die Schweiz. "Wir wollten einige Jahre bleiben, Geld für ein Haus und moderne landwirtschaftliche Geräte sparen und dann zurückkehren".

Träume verwirklichen

Rückkehrabsichten hatten die meisten jugoslawischen Gastarbeiter. So auch die Familie M. aus Serbien: "Wir wollten nur ein paar Jahre, höchstens fünf, in Österreich bleiben. Wir träumten vom eigenen Haus und wollten so viel Geld zusammensparen, um uns diesen Traum verwirklichen zu können. Wir waren jung, naiv und dachten, dass das in fünf Jahren machbar sein müsste", erzählt Radmila M. lachend. Geld verdiente am Anfang nur Radmilas Ehemann, und von seinem Gehalt mussten auch die Schwiegereltern in Serbien unterstützt werden. Erst als die Kinder in den Kindergarten kamen, hat sich auch Radmila nach Arbeit umgesehen.

"Tschuschendeutsch"

Am Anfang waren es nur schlechtbezahlte Hilfsarbeiten, etwa in einer Gärtnerei, in einer Schneiderei und dann als Regalschlichterin im Supermarkt. "Erst im Supermarkt hatte ich die Gelegenheit, vermehrt mit Österreichern in Kontakt zu kommen, mich mit ihnen zu unterhalten. Aber nicht alle von ihnen waren freundlich zu mir. Einige haben mit mir im "Tschuschendeutsch" gesprochen", erinnert sich Radmila.

Arbeitende Gäste

Unter jenen Menschen, die mit der ersten Gastarbeiterwelle kamen (Mitte der Sechziger bis Mitte der Siebziger) bzw. angeworben wurden, haben die wenigsten gezielt Deutsch gelernt. An ihren Arbeitsstellen lernten sie ein paar Brocken, die für die Verrichtung der Arbeit notwendig waren. Mit ihren ArbeitskollegInnen konnten sie meist in ihrer Muttersprache kommunizieren. "Integrative Maßnahmen", wie etwa Sprachkurse, gab es nicht, denn die arbeitenden Gäste sollten eben Gäste bleiben. Als man in Österreich damit begann, Gastarbeiter aus Jugoslawien und der Türkei anzuwerben, wurde von einem sogenannten Rotationsprinzip ausgegangen und angenommen, die GastarbeiterInnen würden in ihre Herkunftsländer zu ihren Familien zurückkehren und neue Arbeitskräfte würden stattdessen nach Österreich kommen.

Jung und belastbar

Gerufen hat man nach jungen, belastbaren, arbeitswilligen Menschen, die während ihrer erwerbsfähigen Jahre hier bleibe sollten. Kosten für die Qualifizierung jüngerer oder für die Versorgung älterer Personen waren nicht vorgesehen. In den ersten fünfzehn Jahren entsprach die Realität auch durchwegs diesen Erwartungen: Die Erwerbsquote der in Wien lebenden JugoslawInnen betrug 1981 71,6 Prozent (Männer 75,2, Frauen 67,9). Die Erwerbsquote der einheimischen Bevölkerung betrug 45,9 Prozent (Männer 56,7, Frauen 37,5)**.

Doch bereits in den Siebziger Jahren gab es Familiennachzug, und die Entwicklung hin zum dauerhaften Aufenthalt wurde sichtbar. Auch Radmila und ihr Mann verwarfen bald ihre Rückkehrpläne. "Als unser Sohn schulpflichtig wurde, mussten wir uns entscheiden: Wo soll er in die Schule gehen? Mein Mann wollte zurückkehren. Er meinte, dass wir genügend gespart hätten, um davon zehren zu können. Er war der Meinung, dass wir uns schon zu Recht finden würden. Ich wollte aber hier bleiben".

Ist es das wert?

Ana J. musste mit niemandem Gegensprache halten. Ihr war bald klar, dass sie in Wien bleiben würde. Hier konnte sie ihr Leben als alleinstehende Frau viel besser meistern, als in Bosnien. "Da wäre ich ewig unter der Fuchtel meiner Eltern gestanden", sagt Ana schmunzelnd. Nur einmal hatte sie leise Zweifel über die Sinnhaftigkeit eines Lebens in der Fremde. Ihr jüngster Bruder kam 1979 bei einem Autounfall auf der berüchtigten Gastarbeiterroute um. "Eine Zeitlang waren wir alle sehr verbittert und fragten uns, ob das harte Arbeiten und der Schilling wirklich alle diese anderen Schwierigkeiten, wie Heimweg und das ewige Hin- und Herreisen, wert waren".

Beide Frauen sind nun am Ende ihres Erwerbslebens angekommen und haben ihren Lebensmittelpunkt in Wien. Seitdem ihr Vater gestorben ist, reist Ana J. nicht mehr nach Bosnien. "Wenn mich meine Nichten und Neffen sehen wollen, dann besuchen sie mich hier", erzählt sie. Radmilas Kinder haben erfolgreiche Karrieren und kennen keine andere "Heimat". Ihretwegen haben sie und ihr Mann ein Leben voller Arbeit und Entbehrungen auf sich genommen und haben es nicht bereut, so Radmila. (OliveraStajić, 09. September 2010, daStandard.at)