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Wo tut es denn weh? Nicht nur wir Menschen, auch Schimpansen verfügen laut dem Verhaltensforscher Frans de Waal über das Konzept des "zielgerichteten Helfens".

Foto: REUTERS/David Moir

Es muss eine dramatische Szene gewesen sein, die sich da im Schimpansengehege eines schwedischen Zoos abspielte: Ein Jungtier hatte sich beim Spielen das von oben herabhängende Seil um den Hals gewickelt und drohte nun vor den Augen der entsetzten Besucher zu ersticken.

Was tun? "Sie können nicht einfach in einen Schimpansenkäfig reinmarschieren", erklärt Primatenforscher Frans de Waal, das sei viel zu gefährlich. Als Retter in höchster Atemnot kam ein Artgenosse daher. Das Alpha-Männchen der Gruppe fasste das Jungtier mit einem Arm, um den Druck des Körpergewichtes zu nehmen, und löste dann mit der anderen Hand das Seil vom Hals.

Frans de Waal erzählt diese Geschichte häufig: in seinem 2009 erschienenen Buch The Age of Empathy (Deutsch so viel wie "Zeitalter des Mitgefühls"), das seit gestern auch als Taschenbuch vorliegt, in Interviews und bei Vorträgen. So etwa auch am letzten Sonntag als Hauptredner bei der Jahreskonferenz der EMBO (European Molecular Biology Organization) in Barcelona.

Zielgerichtetes Helfen

Die Geschichte illustriert bestens de Waals Konzept des "targeted helping", des zielgerichteten Helfens. Das Alpha-Männchen im schwedischen Zoo schien die Situation genau erfasst zu haben. Es hätte ja auch panisch am Körper des jungen Schimpansen zerren und ihn so erst recht strangulieren können, gibt de Waal zu bedenken.

Die Anekdote genieße in der Psychologie und in der Verhaltensforschung einen schlechten Ruf, gesteht de Waal im Interview mit dem Standard ein. Sie beruht auf Hörensagen und ist dem Zufall geschuldet, nicht einem wohldurchdachten experimentellen Design, ist also auch nicht reproduzierbar. De Waal hingegen argumentiert: Natürlich sei die Aussagekraft einer Anekdote begrenzt, aber sie könne ja das eigene Denken in Gang bringen und zu neuen Fragestellungen führen.

Und dann gebe es Situationen, die man experimentell nicht testen kann und will. Also etwa Schimpansen aufknüpfen, um zu sehen, ob die Artgenossen wissen, wie man den Probanden vor dem Ersticken rettet.

Würde man Menschen auf der Straße fragen, ob sie Tieren Gefühle und auch Einfühlungsvermögen zugestehen würden, sagten wohl die meisten ja, so de Waal. In der Verhaltensforschung sei das lange umgekehrt gewesen, viele Wissenschafter hielten diese Idee für eine menschliche Projektion.

Für de Waal ist hingegen klar: alle Säugetiere sind der Empathie fähig. Seit 1997 leitet de Waal das Living Links Center zur Erforschung der Evolution bei Menschenaffen und Menschen, das zum Yerkes Primatenforschungszentrum der Emory University im US-Bundesstaat Georgia gehört. Hier geht er mit seiner etwa zwanzigköpfigen Arbeitsgruppe Fragen nach tierischem Denken, Fühlen und Handeln nach.

Durch systematische, auf Video dokumentierte Versuche und anekdotenfrei, versteht sich. Vor kurzem publizierte seine Mitarbeiterin Teresa Romero eine Studie (PNAS, Bd. 107, S. 12110), die zeigt, dass sich Schimpansen, ähnlich wie Menschen, gegenseitig trösten. Empirische Grundlage: 4000 "Fälle".

Um sein Empathie-Argument zu untermauern, führt de Waal auch zahlreiche Studien anderer Forscher an. 2006 konnten Dale Langford und Kollegen zeigen, dass selbst Mäuse "mitleiden", wenn andere Mitglieder ihrer Gruppe Schmerz erfahren (Science Bd. 312, S. 1967). Zudem können einige höhere Säugetiere, wie Menschenaffen, Delfine und (laut rezenten Versuchen von de Waal im Bronx Zoo in New York) sogar Elefanten sich selbst im Spiegel erkennen und in andere Artgenossen hineinversetzen.

Die Versuche von de Waal und anderen Verhaltensforschern zeigen auch, dass Empathie, Hilfsbereitschaft und die Bereitschaft zur Kooperation unter Mitgliedern der selben Gruppe signifikant höher sind als zwischen fremdem Tieren.

De Waals jüngstes Buch The Age of Empathy heißt im Untertitel Nature's Lessons for a Kinder Society, auf Deutsch etwa: "Die Lehren der Natur für eine gütigere Gesellschaft". Von der US-amerikanischen Wissenschaftsforscherin Donna Haraway stammt das Bonmot, Primatologie sei Politik mit anderen Mitteln. Der gebürtige Niederländer de Waal lebt und forscht seit 1981 in den USA. Klar, sagt er im Interview, die Ansichten der Primatologie seien immer auch vom gesellschaftlichen Kontext geprägt.

Politik der Primatologie

Er verweist auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Primatologen ganz auf die Erforschung der Aggression fixiert waren. Und ja, seine Forschung sei sicherlich geprägt durch den Turbo-Kapitalismus der USA, die Bush-Jahre und die mangelhafte Ausgestaltung des Sozialstaates (Stichwort: Krankenversicherung). Gerade nach dem Wirtschaftscrash von 2008 werde nun in den USA viel über ein neues Menschenbild und die Notwendigkeit eines neuen Miteinander diskutiert.

Er habe eine politische Botschaft, sagt de Waal ganz offen. Er möchte darauf hinweisen, dass Säugetiere und damit auch Menschen eben nicht nur gierig, machtbesessen und egoistisch seien: "Wir sind von Natur aus weder gut noch böse." Klingt gut - und doch bleibt ein wenig Unbehagen zurück. Die Autorität der Natur in Anspruch zu nehmen, kann nämlich auch zu politischem Missbrauch führen.

Weniger wohlmeinende Geister als de Waal könnten sich etwa jene Aspekte dieser Forschungsrichtung herauspicken, die zeigen, dass bei Mäusen und Affen Empathie stark mit Verwandtschaft und der Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe korreliert. Und damit argumentieren, es sei "natürlich" weniger einfühlsam mit Fremden zu sein. (Oliver Hochadel aus Barcelona/DER STANDARD, Printausgabe, 08.09.2010)