Simon Wiesenthal im April 2000 in seinem Büro in Wien. Jetzt werden Aspekte seines Lebens neu beleuchtet.

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Das Buch erscheint fast gleichzeitig auf Hebräisch, Englisch und Deutsch.

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Mit Segev sprach Adelbert Reif.

STANDARD: Herr Segev, was veranlasste Sie, eine Biografie über Simon Wiesenthal zu schreiben, nachdem bereits von ihm selbst eine Autobiografie vorliegt?

Segev: Wiesenthal hat in der Tat mehrere Male seine Lebensgeschichte diktiert. Auch gibt es Biografien von Alan Levy und Hella Pick. Aber es gibt keine Biografie, die frei und unabhängig auf den Dokumenten beruht, die Wiesenthal hinterlassen hat. Ich hatte als erster völlig freie Einsicht in seine Unterlagen, auch in seine Privatakten. Es versuchte niemand, mich zu beeinflussen. Im Gegenteil, seine Tochter meinte, sie freue sich, dass jemand die Archive durcharbeite, weil es so viel gebe, das sie über ihren Vater nicht wisse.

STANDARD: Kannten Sie Wiesenthal persönlich?

Segev: Ich habe ihn zweimal interviewt, 1975 anlässlich der Kreisky-Affäre und 2000, als Jörg Haider sehr stark wurde. Er war ein eindrucksvoller Mann. Umringt von Zeitungsbergen saß er in einem ganz bescheidenen Büro am Schreibtisch. Das faszinierte mich. Und ich fand ihn umso faszinierender, je länger ich an dem Buch arbeitete.

STANDARD: Sie bezeichnen Wiesenthal als einen "Romantiker wie Don Quichotte" mit einer starken "Neigung zu Phantastereien"...

Segev: Wiesenthal hatte sehr abenteuerliche Geschichten erzählt. Oft dachte ich, das könne nicht stimmen, das müsse er erfunden haben. Das Merkwürdige aber war, dass ich dann auf Dokumente stieß und feststellte: Es stimmt doch. Er hatte zum Beispiel berichtet, dass er Silvester 1948 nach Altaussee gefahren sei, um Adolf Eichmann festnehmen zu lassen und ein israelischer Agent die Festnahme vereitelt habe. Das erzählte er in so vielen Versionen, dass ich es für eine Erfindung hielt. Nun hatte der Chef des israelischen Geheimdienstes, der Wiesenthal hasste, ein Buch gegen ihn geschrieben. Es wurde nie veröffentlicht. Aber ich konnte das Manuskript einsehen, und da ereiferte sich der Geheimdienstchef über Wiesenthals Darstellung, ein israelischer Agent habe die Festnahme Eichmanns gestört. Das sei keiner seiner Agenten gewesen, den habe das Militär geschickt. Für mich ist es egal, ob es ein Agent oder ein Militär war. Entscheidend ist, dass dort tatsächlich jemand war, der die Festnahme verhinderte. Es gelang mir, die Söhne dieses israelischen Militärs ausfindig zu machen. Ihr Vater hatte sogar einen Bericht über die misslungene Festnahme geschrieben. Der stimmte zwar nicht in allen Details mit Wiesenthals Darstellung überein. Aber im Wesentlichen bestätigte er sie. Das war für mich ein Warnzeichen.

STANDARD: Den "Phantastereien" zu glauben?

Segev: Er entstellte in seinen Erzählungen vielleicht oder schuf seine eigene Version. Aber es gab immer einen Fuß in der Wirklichkeit. Er erzählte zum Beispiel von einem Informanten, der M. genannt wurde und ihm mitteilte, dass Eichmann sich in Argentinien aufhalte. Das glaubte damals niemand. Aus Wiesenthals Akten konnte ich jetzt herauslesen, dass dieser M. Baron Heinrich Mast war. Es ist also doch etwas dran an der Geschichte, auch wenn Wiesenthal sie sehr dramatisiert hat.

STANDARD: Darüber hinaus gab es aber Widersprüche in seiner Lebensgeschichte, die auch in Ihrer Biografie bestehen bleiben. Haben diese Widersprüche der Glaubwürdigkeit Wiesenthals Schaden zugefügt?

Segev: Wiesenthal tat manches ziemlich Leichtsinnige. Es war für seine Gegner leicht, Unstimmigkeiten und Erfindungen festzustellen und seine Glaubwürdigkeit zu unterminieren. 1945 gab er ein Buch mit Grafiken heraus, die er aufgrund seiner Erlebnisse im Konzentrationslager Mauthausen angefertigt hatte. Eine dieser Grafiken stellte sich als Kopie einer Fotografie von Erhängten aus dem amerikanischen Magazin Life heraus. Es handelte sich um deutsche Spione, die von Amerikanern zum Tode verurteilt worden waren. Mit Mauthausen hatte das überhaupt nichts zu tun. Warum hatte er das Bild ins Buch genommen? Er hatte doch genügend fürchterliche Bilder gesehen. Neonazis haben das natürlich sofort entdeckt und ein großes Aufheben davon gemacht. Wiesenthal dementierte alles, ließ das Bild aber in der folgenden Auflage des Buches weg. Ein anderes Beispiel ist die Darstellung seiner KZ-Vergangenheit. Er war in fünf Konzentrationslagern. Mit den Jahren aber stieg die Zahl in seinen Erzählungen auf sieben. Dann waren es neun und schließlich 13. Warum? Fünf wären doch wirklich genug. Ich versuchte zu analysieren, wozu er das brauchte, welchen Zweck er damit verfolgte.

STANDARD: Konnten Sie alle Ungereimtheiten aufklären?

Segev: In den meisten Fällen ist es mir gelungen. Es würde mich sehr wundern, wenn jetzt noch etwas herauskäme. Die Hauptfragen sind geklärt, und zwar zu Wiesenthals Gunsten. Je tiefer ich recherchierte, desto mehr lernte ich ihn schätzen. Was mich vor allem überraschte, das war seine humanistische Auffassung des Holocausts. Sie begründete seinen Konflikt mit Elie Wiesel und widersprach auch der Sicht, die man in Israel auf den Holocaust hatte. Er beurteilte jeden Menschen nur nach seinen Taten und nicht aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einem Kollektiv. Er erkannte, dass es gute Deutsche gibt und schlimme Juden.

STANDARD: Sie berichten über viele Streitigkeiten und Feindschaften zwischen Wiesenthal und jüdischen Repräsentanten. Was war der Grund für diese Zwistigkeiten?

Segev: Alle Nazi-Jäger hassten einander. Die Gründe sind schwer zu verstehen. Es spielte sehr viel Persönliches eine Rolle. Außerdem war Wiesenthal eine sehr streitbare Persönlichkeit. Er war ungeheuer eigenwillig und egozentrisch. Sein Leben lange führte er Prozesse, in denen es darum ging, dass jemand seine Ehre verletzt habe. Die meisten gewann er, auch den Prozess gegen Bruno Kreisky, der ihm vorwarf, mit den Nazis kollaboriert zu haben.

STANDARD: Konnten Sie ausschließen, dass Wiesenthal mit Nazis zusammengearbeitet hat?

Segev: Das kann ich mit Sicherheit ausschließen. Viele versuchten, das zu beweisen. Aber es gelang ihnen nicht. Ich war unter anderem im Kreisky-Archiv in Wien, um dieser Behauptung nachzugehen. Bei ihnen sei alles offen, erklärte man mir und brachte mir vier Kästen mit Zeitungsausschnitten. Aber ich war nicht von Israel nach Wien gekommen, um Zeitungsausschnitte zu lesen. Ich wollte Originaldokumente sehen. Das durchzusetzen erwies sich als wesentlich schwieriger, und als ich sie schließlich gezeigt bekam, wusste ich auch, warum. Es handelte sich um Denunziationen von Nazis aus Argentinien und Bolivien. Der Großteil der Briefe war gekommen, nachdem Kreisky seine Äußerungen gemacht hatte. Es waren Unterstützungsbriefe. Ich kam zu dem Schluss, dass Wien einfach zu klein war für zwei große Juden. Kreisky ist ebenso eine interessante, problematische und tragische Figur wie Wiesenthal.

STANDARD: Wiesenthal charakterisieren Sie gleich auf den ersten Seiten als einen "tragischen Helden". Worin bestand seine Tragik?

Segev: Die Tragik liegt darin, dass er es nicht schaffte, sich ein neues Leben aufzubauen, und immer im Holocaust steckenblieb. Das ist doch fürchterlich, dass jemand nicht wegkommt von diesen drei Jahren. Er war ausgebildeter Architekt. Er hätte diesen Beruf ausüben können. Aber er vermochte es nicht, sich vom Holocaust zu trennen. Der ganze Komplex Schuld, Strafe und Reue beschäftigte ihn sein Leben lang. Auch die Beziehungen zu seiner Frau und seiner Tochter waren davon belastet, dass er überhaupt in Österreich blieb. Er war ein völliger Sklave der Vergangenheit.

STANDARD: Als Zionist bekannte er sich zum Staat Israel. Aber er wanderte nicht nach Israel aus ...

Segev: Es war mehr als nur eine Sympathie für Israel. Er war ein aktiver Unterstützer Israels. Mit einem Bein lebte er in Israel. Darum war ich verblüfft, als ich herausfand, dass er für den Mossad gearbeitet hatte, und andererseits war es völlig einleuchtend. Es hatte nur niemand geahnt.

STANDARD: Wenn Sie als Historiker die bleibenden Leistungen Wiesenthals rekapitulieren: Welche würden Sie als die bedeutendsten herausheben?

Segev: Am bedeutendsten ist sein Beitrag zur Holocaust-Erinnerung. Es hat niemand mehr getan als er, um die Erinnerung an den Holocaust aufrechtzuhalten. Jeder Kriegsverbrecher sollte wissen, dass er, auch wenn er neunzig Jahre alt ist, vor Gericht stehen kann. Darum ist der Demjanjuk-Prozess in München so wichtig, egal, wie er ausgeht. Völkermorde und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind mit dem Zweiten Weltkrieg nicht beendet. Jedem jungen Menschen, der Uniform trägt, muss man einprägen, dass es Befehle gibt, die man nicht ausführen darf. (DER STANDARD, Printausgabe, 07.09.2010)

=> Neue Quellen für Wiesenthals Biografie

Neue Quellen für Wiesenthals Biografie
Historiker Segev präsentiert Buch

Wien – Am Mittwoch, dem 15. September, stellt der israelische Historiker und Publizist Tom Segev im Jüdischen Museum in Wien – und am darauffolgenden Tag im Literaturhaus Salzburg – seine soeben erschienene Biografie Simon Wiesenthal vor (Siedler Verlag, München, 576 Seiten, 30,80 Euro). Das Buch erscheint fast gleichzeitig auf Hebräisch, Englisch und Deutsch.

Für seine Arbeit konnte Segev auf eine Fülle bisher unbekannter, erst jetzt in österreichischen und internationalen Archiven zugänglich gewordener Materialien zurückgreifen. Sein Buch wirft ein in vielerlei Hinsicht neues Licht auf das dramatische Leben und die zeitgeschichtliche Bedeutung des 2005 verstorbenen weltbekannten "Nazi-Jägers".

Der 1908 in Galizien geborene Altösterreicher Wiesenthal hat fünf Konzentrationslager überlebt. Er starb im Alter von 96 Jahren in Wien und wurde in Israel begraben. Wiesenthal hatte auch einen israelischen Pass, obwohl er kein israelischer Staatsbürger war. (red)