"Ich möchte nicht nur ein Autor sein, der unheimlich viele schlechte Dinge aufzeigt, sondern einer, der sagt, es gab und gibt auch wunderbare Sachen."

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Weshalb ihn das Schreiben zu einem besseren Menschen macht, erzählt er Isabella Pohl.

STANDARD: Gleich im Titel Ihres neuen Buches tritt Brecht auf. "Im Dickicht der Städte" erschien 1927 vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise, von Massenarbeitslosigkeit, sozialer Kälte. Greifen Sie eine ähnliche Stimmung auf?

Gauß: Ich war ganz beschämt, als ich gehört habe, dass man meinen Titel mit dem Dickicht der Städte verbindet. Das ist mir völlig entgangen. Ich wollte dieses Buch aus der Spannung zwischen Metropolen und der Peripherie erzählen. In der Metropole ist auch viel Provinz, Randständiges – metaphorisch gesprochen Wälder. Und in der Provinz wiederum finden sich erstaunliche Phänomene der absoluten Neuzeitlichkeit, des Modernistischen.

STANDARD: Sie haben dieses Buch als Ihr Opus magnum angekündigt. Ist es das?

Gauß: Ich sollte es nicht so nennen. Es ist ein Buch, an dem ich sehr lange geschrieben habe – was für mich etwas Besonderes ist, weil ich sehr rauschhaft, konzentriert arbeite und Bücher oft in sechs Monaten fertig habe. Dann muss ich sechs Monate schlafen gehen und schreibe kaum eine Zeile. Bei diesem Buch war das anders. Ich habe sehr lange daran geschrieben. Ich habe versucht, darin alles, was ich weiß, mit meiner Lebensgeschichte und Entwicklung komplett zu verbinden.

STANDARD: Wollten Sie sich als Autor bewusst mehr in Ihr Werk einbringen?

Gauß: Ja, schon. Bei meinen Reisebüchern gibt es die Tendenz, dass ich mich selber zunehmend thematisiert habe. Ich wollte die Rolle des Ethonografen stärker reflektieren. Im Wald der Metropolen ist das auf eine neue Ebene gehoben. Jede Information wird über mich als eingestanden subjektive Schleuse vermittelt.

STANDARD: Liegt Ihrem Schreiben nicht auch der Versuch zugrunde, Realien, die existieren, an die Oberfläche zu bringen?

Gauß: Eines ist klar: Ich möchte mit jedem Buch etwas über die Welt sagen, aber auch über mich. Und ich möchte vor allem, und ich glaube, das ist ein völlig legitimes und starkes Moment der Literatur, auch so etwas wie ein Zeugnis meiner selbst geben.

STANDARD: Sie spüren in Ihren Büchern vergessene, verborgene Figuren und Landschaften auf. Lässt sich die Welt en gros nur in den kleinsten Details erzählen?

Gauß: Ich eigne mir bei meinen Recherchen zunächst immer viel Wissensmaterial an, das ich dann dem Augenschein aussetzen muss. Das Bemerken eines Details kann viel Vorwissen aushebeln. Und das geglückte Detail ist jenes, das für etwas Größeres spricht.

STANDARD: Was sind die Voraussetzungen, um Wirklichkeit in die Literatur zu heben?

Gauß: Wissen, Zuneigung, Geduld. Geduld deshalb, weil man, um eine Realität überhaupt wahrzunehmen, auch abwarten können muss, was sich an Geheimnissen und überraschenden Dingen tut. Und dann ist es auch noch eine Haltungsfrage. Ob ich die Wirklichkeit so interessant finde, dass ich sie abbilden möchte.

STANDARD: Wo kommt dann die Fiktion ins Spiel?

Gauß: Ich setze zunehmend Fiktion ein. Aber nicht zu dem Zweck, mich von dem, wozu ich stehe, nämlich die Realität erkennen zu wollen, zu verabschieden, sondern ich glaube, dass man manchmal mit Fiktionen das, was die Realität ist, klarer zum Ausdruck bringen kann.

STANDARD: Verspüren Sie eine Sehnsucht nach Fiktion?

Gauß: Für die einen bin ich ein Sachbuchautor, für die anderen bin ich ein mit Sachen aufgefüllter Autor, der den Roman und die wahre Fiktion noch nicht erreicht hat. Ich kriege kaum eine häufigere Frage als die, wann ich einen Roman schreibe. Aber den Roman, den man zunehmend von mir erwartet, werde ich nicht schreiben. Eher werde ich die Wissenschaft dazu zwingen, dass sie das Konzept des Romans anders definiert!

STANDARD: Als Autor, Herausgeber und Rezensent kennen Sie den Literaturbetrieb in allen Facetten. Wie sehen Sie Ihre Rolle?

Gauß: Die Bücher sind natürlich meine Herzensangelegenheit geworden, die ich mir immer dadurch, dass ich mein Leben sehr gut plane, von den alltäglichen Verpflichtungen abgewinnen muss. Was ich schreibe, egal in welcher Disziplin, muss großartig sein – nicht in dem Sinne, dass es weltliterarisch großartig ist, sondern es muss auf der Höhe dessen sein, was ich zuwege bringe. Insofern ist jede Literaturkritik und jeder Kommentar genauso anstrengend für mich wie ein Buch, nur kürzer.

STANDARD: Was sind Ihre Qualitätskriterien?

Gauß: Ich selber bin natürlich kein praktizierender Avantgardist, das ist mir völlig klar. Meine Sprache kommt aus klassisch-modernen Traditionen, und ein schöner Satz ist in meinen Augen der Baustein eines jeden guten Textes.

STANDARD: Sie stöbern immer wieder völlig unbekannte Schriftsteller auf. Woher rührt dieses Interesse?

Gauß: Ich wollte in den 80er-Jahren ein anderes Bild der österreichischen Geschichte und Literatur zeigen. Es hat mich wahnsinnig gestört, dass immer gesagt wurde, alles sei so kakanisch verschroben oder unkritisch. Ich habe im übertriebenen Maße versucht, widerständige, subversive Traditionen zu präsentieren. Es stört mich auch heute noch, wenn ein rein negatives Bild von Österreich präsentiert wird, weil ich weiß, dass dieses Bild auch daraus entsteht, dass man viele totgeschwiegene Personen nicht zur Kenntnis genommen hat.

STANDARD: Die Literatur hätte hier auszugleichen?

Gauß: Die Aufgabe von Literatur sind nicht nur sehr berechtigte kritische Blicke auf unser österreichisches Gemeinwesen. Die Literatur kann auch die Aufgabe haben, diese versprengten einsamen Menschen, die anderes wollen, zu ermutigen. Ich möchte nicht nur ein Autor sein, der unheimlich viele schlechte Dinge aufzeigt, sondern der sagt, es gab und gibt auch wunderbare Sachen.

STANDARD: Täuscht der Eindruck, oder sind Sie als Kritiker leiser geworden?

Gauß: Meine literarische Arbeit hat sich lange an der Kritik orientiert. Aber mittlerweile suche ich auch Bilder und Geschichten, die so etwas wie Schönheit, Glück, Würde, rebellisches Tun repräsentieren. Für mich ist Literatur auch eine Form von Lebenslehre. Wenn ich heute aufhören würde zu schreiben, ich wäre sofort ein dümmerer, aber auch ein schlechterer Mensch. Nur beim Schreiben kann ich so gescheit sein, wie ich sein kann. Nur beim Schreiben kann ich so moralisch sein, wie ich sein möchte, und auch so unmoralisch übrigens. Ich brauche das Schreiben, um zu dem zu gelangen, was mir möglich ist. (Isabella Pohl, DER STANDARD – Printausgabe, 7. September 2010)