Oder sollte das Scherbengericht gegen Thilo Sarrazin, das da unlängst über den TV-Schirm flimmerte, doch Realität gewesen sein?

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Wer sich nicht davon abschrecken ließ, dass eigentlich nur Unterschichtler zur Mittagsstunde Zeit finden, Fernsehen zu schauen, konnte vergangene Woche auf "Phoenix" eine wundersame Entdeckung machen. Denn zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung war es wieder da, jenes aus totalitärer Geisteshaltung geborene Ritual des wohligen Abstrafens.

Den Anlass gab die Präsentation von Thilo Sarrazins Buch über die blinden Flecken der hiesigen Migrationsdebatte, und auch wer beim Stichwort "Gene" aus gutem Grunde erst einmal zusammenzuckte, hätte sich zumindest als Dialektiker so einige Gedanken machen können: etwa über die Unsterblichkeit des Opportunismus-Gens, das sich allerdings - und das mag der historische Fortschritt sein - trotz spiegelgleicher Attitüde nicht mehr direkt auf das "gesunde Volksempfinden" beruft, sondern es im Gegenteil abfällig kommentiert und nur bei den "Anderen", sprich den Sarrazins, verortet.

Dabei genügte ein Blick in die pflichteifrig empörten Journalisten-Gesichter, um sich die gleichen Physiognomien auch zeitversetzt vorstellen zu können, nämlich bei SED-Parteiversammlungen "unserer Medienschaffenden" : Da gab es die subjektiv aufgebrachte Volontärin, den "Alten Hasen" alias müden Funktionär, dazu die wie automatisch Kopf schüttelnden und zischenden Nebenfiguren - nicht einmal der Typus "besorgter Genosse" durfte fehlen, welcher manchen Analyse-Aspekten des Delinquenten zwar unter Vorbehalt durchaus zuzustimmen geneigt gewesen wäre, allerdings den "objektiv angerichteten Schaden" dann für zu hoch hielt.

Dabei hätte der Ort des medialen Scherbengerichts gar nicht gesamtdeutscher, urbaner und transparenter sein können: Es war das Haus der Berliner Pressekonferenz am Schiffbauer Damm - also gleich da, wo in Wolf Biermanns alter Ballade "die Friedrichstraße sacht/ den Schritt über das Wasser macht" und der "preußische Ikarus/ mit grauen Flügeln aus Eisenguss" den Stillstand der Zeiten bedauert. Und nein, selbstverständlich leben wir nicht mehr in der DDR, und Thilo Sarrazin riskiert im Grunde genommen nichts weiter als seinen Bundesbank-Job.

In der auf die live übertragene Pressekonferenz bei "Phoenix" folgenden Gesprächsrunde gab dann auch sogleich einer der Experten zu Protokoll, dass bei einer Trennung von Sarrazin ("Wie von unserer Kanzlerin ja bereits angesprochen" ) auch die Frage der entsprechenden Entschädigung gelöst werden müsste.

Aber erhielten Unbotmäßige, die in der DDR Berufsverbot kassiert hatten, nicht auch weiter ihre Bezüge als Übersetzer oder Regisseure? Kaum hatten wir uns gefragt, wie wohl zu jenen Zeiten die heutige Journalistenschar agiert hätte, sahen wir - immer noch ungläubig vor dem Fernseher sitzend - auch schon den Generalsekretär einer kleinen Partei, die sich als liberal bezeichnet. Hier allerdings wurde nicht nur Sarrazin gescholten, sondern die SPD - "die dies hätte wissen müssen" - gleich mit in Haftung genommen. Fehlende Wachsamkeit, Genossen!

Spätestens in diesem Moment aber beschließen wir, den Fernseher auszuschalten und alles für eine gelungene Satire zu halten. Doch wie täuschend perfekt unsere eloquenten Demokraten da gerade ein kleines Orwell'sches Schauspiel aufgeführt hatten ... (Marko Martin/DER STANDARD, Printausgabe, 6.9.2010)