Das Foto ist Mitte der 80er-Jahre entstanden, nachdem ich in das Dorf meiner Kindheit zurückgekehrt war. Es muss ein kalter Wintertag gewesen sein als ich auf den Auslöser meiner Kamera drückte, Frau H. half ihrem Bruder beim Ausgraben einiger Mostbirnbäume ...

 

Foto: Richard Wall

Richard Wall lebt in OÖ. Von ihm erschien u. a. "Am Rande" (Gedichte, Rimbaud, 2006), "Rom. Ein Palimpsest" (Kitab, 2006). "Buchprämie 2009" des BMUK für den Gedichtband "Unter Orions Lidern".

Foto: Richard Wall

Arbeit begleitete ihr Leben; niemand war da, der ihr gesagt hätte: Ruh dich einmal aus! Von

In der schmalen Küche, in der sie oft saß zwischen Herd und Waschbecken, um sich auszuruhen von der Arbeit im Gemüsegarten oder auf den Wiesen und Feldern, liegt das Foto auf dem mittleren der drei Regalbretter. Diese sind dick wie Pfosten und ragen nicht in den Raum hinein, sondern sind, wie in alten Bauernhäusern oft üblich, in einer nahezu einen halben Meter tiefen Mauernische angebracht, die von der gekalkten Decke bis zum gepflasterten Boden reicht. Auf den verschmutzten, fast schwarzen Brettern hat sich grauer Staub angesammelt, ansonsten sind sie leer, abgeräumt, verwaist. Unter dem niedrigsten Regalbrett ist die Nische durch einen Verschlag aus Brettern vom Raum getrennt. Hier liegen noch zwei oder drei Reisigbündel, fahl gewordenes Fichtenreisig; ohne es anzugreifen, höre ich es knistern, spüre ich die Nadelstiche in den Handflächen und den Kuppen meiner Finger.

Ansonsten ist die Küche leer, ausgeräumt, so wie der gesamte Hausstock; dort und da hängt noch verrutscht ein leerer Bilderrahmen an der Wand, ein verblasstes Kalenderblatt. In der "oberen Stube" mit der ornamentalen Stuckgestaltung an der Decke schwebt unter einem Nagel ein Rosenkranz mit schwarzen Perlen.

Abschied nehmen

Ich bin noch einmal durch alle Räume geschritten, um Abschied zu nehmen von einem Hof, der auch mir viel bedeutet hat, noch immer bedeutet, und nun zum Abbruch und damit zum Verschwinden bestimmt ist. Die Frau auf dem Foto, Frau H., ist jahrzehntelang unsere Nachbarin gewesen. Arbeit begleitete ihr ganzes Leben; ja mehr noch: Sie arbeitete wie ein Mann, und niemand war da, der ihr gesagt hätte: Lass das, diese Arbeit mache ich, ruh' dich einmal aus. Trotzdem war sie nicht verbittert, sondern ein warmherziger Mensch gewesen mit einem erstaunlichen Einfühlungsvermögen. Diese Zuneigung - ich weiß nicht, woher sie die Energie dafür hatte, in die Kirche ging sie nie, ich weiß gar nicht, ob sie im konventionellen Sinn "gläubig" war - galt auch den Tieren, den Kühen, Hennen und Katzen, eigentlich allem Kreatürlichem. Sie bewirtschaftete den Hof gemeinsam mit ihrem Bruder, beide waren unverheiratet geblieben, gewiss eine nicht leichte Schicksalsgemeinschaft. Sie rackerten von früh bis spät, und wenn sie abends mit der Stallarbeit begannen, waren die Nachbarn mit dem Einfüttern und Melken meist schon fertig. Doch sie wirtschafteten gut, ohne sich zu verschulden, beide bis zur Rente und noch Jahre darüber hinaus. Frau H. starb zweiundachtzigjährig im Jahre 2005, nahezu blind, eine Katze war ihre letzte Gefährtin. Ihr um einige Jahre jüngerer Bruder lebt seit einem Schlagabfall vor drei Jahren im Altersheim der Gemeinde.

Frau H. war auch die Mutter eines Mädchens, im selben Jahr geboren wie ich, und die einzige Erbin; die einzige Erbin, die nun mit ihrem Mann beschlossen hat, den Hof abzureißen und an seiner Stelle ein Gebäude mit Mietwohnungen zu errichten. Der reichhaltige Obstgarten, bestehend aus Zwetschgen-, Apfel- und Mostbirnbäumen, wird einer großzügigen Zufahrt sowie einem Parkplatz für Bewohner und Besucher weichen müssen. Die restliche Fläche wird zu einem Rasen degradiert werden, wahrscheinlich wird man dann auch einige Sträucher pflanzen, vielleicht auch Thujen; Schluss jedenfalls mit Wildwuchs, Fallobst und einfallenden Amseln.

Wer Frau H. geschwängert hatte, wusste niemand mit Bestimmtheit zu sagen; sie redete nie darüber. Nach dem Krieg war sie einige Jahre lang bei einem Marktbauern und Fleischhauer im fünf Kilometer entfernten Gallneukirchen als Magd tätig gewesen. Das Gerücht sah in einem ebenfalls dort Dienst tuenden Knecht den Vater des Mädchens, manche wollten auch wissen, dass sie von ihm vergewaltigt worden sei. Es darf angenommen werden, dass das Mädchen keine gute Kindheit hatte auf dem Hof; vielleicht fällt es ihr deswegen sogar leicht, diesen einst stimmigen Mikrokosmos bäuerlicher Kultur zu vernichten. Vergeblich habe ich immer wieder, bis zur Lächerlichkeit, auf die Qualität des Stalles mit seinem Gewölbe und den Granitsäulen hingewiesen, auf den Keller mit Ziehbrunnen, aus dem man tatsächlich mit Hilfe einer Winde und einem an einem Seil hängenden Eimer Wasser schöpfen konnte, auf die symmetrisch über der Hofeinfahrt angebrachten Heiligenbilder im Mauerwerk, auf das alte Hoftor mit Sonnensymbol und auf die steinernen Gewände in den Fenstern und Türen: Im Granitbogen der Hofeinfahrt ist die Jahreszahl 1856 eingemeißelt und mit Rötel verdeutlicht, und in jenem der Haustür die Jahreszahl 1836.

Werken mit Krampen

Ich habe das Foto etwa Mitte der 80er-Jahre aufgenommen, nachdem ich in das Dorf meiner Kindheit zurückgekehrt war. Es muss ein kalter Wintertag gewesen sein, als ich auf den Auslöser meiner schwarzen Nikkormat drückte, Frau H. half ihrem Bruder beim Ausgraben einiger Mostbirnbäume und beim Aufarbeiten dieser. Sie werkten mit Krampen und Schaufel, mit Zugsäge und Asthacke, auch das Reisig wurde nicht verschmäht, sondern im Frühling am Hackstock ofengerecht abgelängt, dann mit gelb leuchtenden Weidenzweigen gebündelt. Es war paradox: Obwohl die Holzhütten voll waren mit Brennholz, war es meistens kalt in der Stube, wann immer man zu ihnen auf Besuch kam.

Vergrößert habe ich das Foto eigenhändig in meiner improvisierten Dunkelkammer, Papierformat 13 x 18 von Ilford, irgendwann dürfte ich es der Frau H. geschenkt haben. Ich bin mir sicher, dass auch noch einige andere Motive dabeigewesen sind, doch nur dieses eine überlebte das letzte Vierteljahrhundert. Nun habe ich es wieder vor mir, fleckig, mit einem Anflug von Schimmel an den Rändern. Ein minimalistisches Epitaph, wenn ich es vom abgeräumten Regalbrett nehme und gegen die Nischenwand lehne, in der ausgeräumten Küche, in der sie das Essen zubereitet hat, bis Mitte der Siebzigerjahre auch für ihren Vater, zuletzt nur noch für sich und ihren Bruder. Manchmal hat sie hier auch Sterz gekocht für die Hühner.

Dieser Hof birgt noch eine zusätzliche Geschichte, die auch an den Mauern, die bald nicht mehr existieren werden und zwischen denen kein Mensch mehr atmet, mehr atmen wollte, abzulesen ist. Nur das Erdgeschoß ist aus dem einst im ganzen Mühlviertel üblichen Baumaterial gefügt, Granitsteine, sie wurden innen mit Lehm und außen mit Mörtel zu einem meterdicken Mauerwerk verbunden; die Gewölbe jedoch und sämtliche Mauern im Obergeschoß sind aus Ziegel, wahrscheinlich aus der hauseigenen Brennerei und aus einer späteren Bauphase, für die die Mitte des 19. Jahrhunderts angenommen werden kann.

Morgen beginnt der Bagger

Vielleicht hat man aufgrund der Erfahrungen beim Ausbau des Hofes das Handwerk als Nebenerwerb weiterbetrieben. Die Vorfahren der Familie H. stellten jedenfalls, soweit dies die Landwirtschaft zuließ, auch noch Ziegel her, der Lehm wurde unmittelbar neben, später hinter dem Hof abgebaut. Nach dem Trocknen wurden die Ziegel im Feldbrand gebrannt, ein aufwändiger Vorgang, der deswegen nur einmal durchgeführt wurde im Jahr. Dieses Brennen, das sechs Tage und Nächte dauerte, soll für das Dorf jedes Mal ein Ereignis gewesen sein; es war wie ein großes Lagerfeuer, um das man sich nach Feierabend versammelte, auch wenn es im Verborgenen brannte. Man kam, um zu plaudern, ein Mostkrug machte die Runde, eine Melodie stieg auf, jemand entlockte der Mundharmonika ein paar Töne. Die Geschichten der Ältesten des Dorfes, die ich einmal dazu befragte, reichten zurück bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Um die Jahrhundertwende, vom neunzehnten ins zwanzigste, sollen sogar Italiener hier beschäftigt gewesen sein, wahrscheinlich Saisonarbeiter aus dem Friaul. In den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts ging die Produktion allmählich zurück; mit den Ziegeln aus dem letzten Brand im Jahre 1938 - und dies ist genau dokumentiert - wurde ein Einfamilienhaus auf der Hochstraß unterm Altaistberg gebaut, der Dieselmotor, der die Schneckenpresse antrieb, wurde an den Betreiber eines Steinbruchs in Breitenbruck verkauft. Die Basis des Dieselmotors, ein Betonquader, aus dem an den Ecken dicke Gewindestangen ragten, stand noch bis vor einigen Jahren unterhalb der steilen Böschung zwischen der Wagenhütte und einem Mostbirnbaum. Diese Geländestufe markiert übrigens die Grenze und zugleich das Ende des Lehmabbaus, der mit dem Ende der Selbstständigkeit Österreichs zusammenfiel. (Richard Wall / DER STANDARD, Printausgabe, 4./5.9.2010)