Bernd Noggler ist für den Europäischen Zivilen Katastrohenschutz in Pakistan tätig und Experte für Lagebild- und Kartenerstellung sowie Informationsmanagement. Auf diesem Bild vom Hochwassereinsatz in Namibia 2009 trägt er seine EU-Weste - in Pakistan macht er das aus Sicherheitsgründen nicht.

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derStandard.at: Die allgemeine „Bestürztheit" über die Flutkatastrophe in Pakistan hält sich in Österreich stark in Grenzen. Woran liegt das?

Bernd Noggler: Die Überschwemmungen dauern schon sehr lange und sind nicht so eine massive Einzelkatastrophe wie ein Erdbeben oder ein Hurrikan. Noch dazu befindet sich Pakistan in der „falschen geographischen" Gegend: Gruppen der Taliban haben zum Teil viel Einfluss, das Militär ist sehr stark, das Land ist eine Atommacht und wird von rund 20 Familien beherrscht - sowohl wirtschaftlich als auch politisch. 

derStandard.at: Genau das wird auch bei vielen Usern von derStandard.at immer wieder als Grund genannt, nicht für Pakistan zu spenden oder sogar dagegen zu argumentieren - im Sinne von: „Die sollen einfach die Atomwaffen verkaufen." Wie ist die Lage vor Ort tatsächlich?

Noggler: Der „kleine Mann" in Pakistan hat gerade in der jetzigen Situation gar nix davon, dass das Land eine Atommacht ist - und klarerweise gibt es Korruption in diesem Land. Aber weder auf Staats- noch auf Provinzebene habe ich bisher erlebt, dass jemand gesagt hat: „Jetzt schmier´ mich zuerst einmal." Auch von keinem Kollegen habe ich so etwas gehört. Aber wir sind eben nur Ersthelfer und bald wieder weg. Bei langfristigen Projekten kann das sicher anders ausschauen.

derStandard.at: Kommen die Hilfsgelder und -mittel tatsächlich an und haben Sie Kenntnis von Überfällen auf Hilfskonvois bzw. Plünderungen?

Noggler: Die Koordination der gesamten EU-Staaten-Unterstützungen ist unsere Hauptaufgabe. Es gibt zwar vereinzelte Meldungen, dass es beim Abladen von Hilfslieferungen zu Scharmützeln gekommen ist, aber das hat nichts mit physischer Gewalt sondern mit Not zu tun. Die Menschen warten oft schon lange auf Nahrungsmittel und andere Güter und sind beim Abladen einfach ungeduldig. In manchen Gebieten ist auch die Kleinkriminalität gestiegen - aber das ist nichts Erschreckendes.

derStandard.at: Müssen Sie besondere Sicherheitsvorkehrungen treffen?

Noggler: Wir sind von der UN angewiesen, uns möglichst unauffällig zu bewegen. Daher tragen wir auch, wie sonst üblich, keine speziellen EU-Westen mit Erkennungszeichen. Insgesamt ist die Sicherheitsproblematik auf jeden Fall ein Thema.

derStandard.at: Gibt es noch Gebiete, die gar nicht erreichbar sind?

Noggler: Einzelne Distrikte sind komplett abgeschnitten, aber die Gebiete im Süden sind viel besser vorbereitet als jene im Norden und Zentrum des Landes, wo man vom Ausmaß der Überschwemmungen vollkommen überrascht war. Im Süden ist auch das Militär massiv im Einsatz, etwa bei der Evakuierung der Bevölkerung, bei der Verstärkung von Deichen und beim Wiederaufbau von unmittelbar notwendiger Infrastruktur.

derStandard.at: Wie groß ist das Ausmaß der Zerstörung?

Noggler: Gerade im Norden ist wahnsinnig viel Infrastruktur zerstört worden, Straßen und Brücken wurden einfach weggeschwemmt. Das Ausmaß ist kaum vorstellbar: Landesweit sind 17 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche stark betroffen und großteils mit einer sehr dicken Schlammschicht überzogen, die so dick ist, dass sie auch Auswirkungen auf zukünftige Ernten haben könnte. Offizielle Stellen sprechen davon, dass dort die diesjährige Ernte bereits vollkommen abgeschrieben wurde und auch nächstes Jahr noch rund 50 Prozent Einbußen drohen. Außerdem sind viele Brunnen verschlammt, was in den nächsten Wochen die Gefahr von Erkrankungen, besonders Durchfall, enorm erhöht, wie die WHO und die UNO berichten.

derStandard.at: Wie wird den Menschen unmittelbar geholfen?

Noggler: Die Essensversorgung ist relativ schnell angelaufen und funktioniert sehr gut. Wichtig ist auch, dass jetzt rasch Feldspitäler aufgebaut werden - vor allem aus Dänemark kommt in diesem Bereich äußerst effiziente Hilfe. Beim Aufbau von Wasserversorgungsanlagen haben sich neben Dänemark auch Deutschland und Schweden besonders engagiert. 

derStandard.at: Kann man schon das Gesamtausmaß der Schäden beurteilen?

Noggler: Das ist ganz schwer abzuschätzen, weil es einfach unvorstellbar ist, was hier passiert ist. Es ist das mit Abstand Schlimmste, mit dem ich je konfrontiert war - vielleicht in der jüngsten Geschichte überhaupt. Es gibt offizielle Statements, dass das Land um 10 Jahre zurückgeworfen wurde bzw. dass der Wiederaufbau 10 Jahre dauern wird. 

derStandard.at: Wie verschafft man sich bei einem solchen Ereignis einen Überblick?

Noggler: Normalerweise erstellen wir zuerst immer ein Gesamtlagebild aus der Luft. Weil es sich hier um so eine riesige Fläche handelt, hätten wir dafür mehrere Hubschrauber gebraucht. Nur wurden diese klarerweise für unmittelbare Hilfseinsätze gebraucht. Aber der pakistanische Katastrophenschutz arbeitet gut, auf Provinzebene sogar hervorragend. Dadurch können wir Lagebilder und Karten erstellen, dazu werden Programme zu Hochwasserprognosen ständig mit Daten gefüttert.

derStandard.at: Wie wirkt sich die Flut auf die politische Situation im Land aus?

Noggler: Ich bin kein Experte in politischen Belangen, aber wir bekommen mit, dass die Regierung in einer großen Krise steckt. Es gibt auch immer wieder Proteste gegen die Regierung. Und das Militär gewinnt sicher wieder an Einfluss - auch deshalb weil im Süden die Koordination und Organisation der Hilfe wirklich gut funktioniert. 

derStandard.at: Werden auch die zahlreichen NGOs vor Ort zentral koordiniert?

Noggler: Die großen Player wie z.B. Rotes Kreuz bzw. Roter Halbmond, CARE oder World Vision arbeiten alle - genauso wie wir von der EU - mit der OCHA (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs der UN, Anm.) zusammen. Auch alle großen islamischen NGOs sind hier integriert, was erstens sehr wichtig für die Situation ist und zweitens ihnen die Möglichkeit gibt, sich außerhalb des „gewohnten Umfelds" zu präsentieren. Einige kleine NGOs dagegen lassen sich nicht koordinieren, diese Medien-NGOs gehen halt lieber dorthin, wo CNN die Kameras hat und nicht immer unbedingt dorthin, wo dringend Hilfe benötigt wird.

derStandard.at: Die österreichische Regierung hat sich anfangs mit finanziellen Zusagen an Pakistan ebenfalls nicht mit Ruhm bekleckert. Wie wurde das vor Ort wahrgenommen?

Noggler: Ich kenne keine genauen Zahlen, die liegen im Innenministerium auf. Aber Österreich hat sehr schnell Material gespendet und finanzielle Unterstützung geleistet. Mittlerweile ist die dritte große Cargo-Lieferung an Hilfsgütern angekommen. So wurden etwa Zelte und Planen, die momentan extrem notwendig gebraucht werden, im Wert von 700.000 Euro geliefert. Wie viel zusätzlich durch Aktionen wie Nachbar in Not u. ä. gesammelt wurde, ist in der EU-Statistik nicht angegeben.

derStandard.at: Sind Sie auch mit unmittelbaren Einzelschicksalen konfrontiert?

Noggler: Man kriegt es natürlich mit. Am Anfang war ich mit Vertretern von OCHA in betroffenen Gebieten, um mir ein Bild von der Lage zu machen. Jetzt in der Hauptstadt Islamabad bekomme ich es vor allem durch Camps und Verwundete mit. Und auch durch das lokale Fernsehen - und das geht einem schon sehr nahe.

derStandard.at: Hilft sich die pakistanische Bevölkerung auch gegenseitig ausreichend?

Noggler: Es gibt auf pakistanischen TV-Sendern Initiativen wie bei uns Nachbar in Not. Es wird auch zu Spenden aufgerufen und Sammelzentren für Sachspenden werden angeführt. Im Land herrscht momentan eine große Spendenbereitschaft.

derStandard.at: Hat die pakistanische Regierung die Katastrophe unterschätzt und zu spät reagiert?

Noggler: Es handelt sich hier tatsächlich um einen langsam schleichenden Tsunami. Zu Beginn der Überschwemmungen, in den ersten zwei Wochen, hat Pakistan auch noch nicht um internationale Hilfe angesucht. Doch bevor wir als Abteilung der EU keine Einladung bekommen, dürfen wir nicht zu arbeiten anfangen. Und große Staaten wie China, USA, Indien, Russland oder Pakistan machen das normalerweise auch nicht - nur sind diese Überschwemmungen ein kompletter Sonderfall. (Martin Obermayr, derStandard.at, 2.9.2010)