Vor knapp zwei Jahren befand sich praktisch ganz Europa in der Falle der doppelten Abhängigkeit vom russischen Gas und von den durch die damals zerstrittene ukrainische Regierung kontrollierten Leitungen. Zahllose Artikel befassten sich mit der Frage: Wer hat im Konflikt zwischen Kiew und Moskau falsch gespielt und warum?

Heute herrscht trügerische Ruhe an der Gasfront. Am Vorabend seines Besuches in Berlin hat der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch bekräftigt, er schließe solche Gaskrisen künftig absolut aus. So etwas werde sich nicht wiederholen, solange er Präsident sei. Diesem Ziel diente wohl auch die umstrittene Vereinbarung mit Russland vom April dieses Jahres, den Pachtvertrag für die russische Schwarzmeerflotte im ukrainischen Sewastopol bis 2042 statt wie bisher geplant bis 2017 zu verlängern. Im Gegenzug erhält die Ukraine über zehn Jahre Preisnachlässe von insgesamt 40 Milliarden Dollar auf russisches Erdgas.

Darüber hinaus ist es ihm gelungen, mit dem Internationalen Währungsfond einen Kredit über 15 Milliarden Dollar zu vereinbaren. Nach den Jahren der endlosen politischen Grabenkämpfe zwischen den im Februar abgewählten Leitfiguren der "orangen Revolution" - Präsident Juschtschenko und Ministerpräsidentin Timoschenko - zeigten sich im Sommer 65 Prozent der Ukrainer mit der Scheinstabilität unter Präsident Janukowitsch zufrieden. Trotzdem veröffentlichte der bedeutende ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowitsch kürzlich, wohl nicht zufällig vor der Serie von Auslandsreisen des Staatschefs, einen flammenden Appell an die internationale Öffentlichkeit: "Bitte beobachten Sie mein Land!" (FAZ 11.8.) Nach der Aufzählung besorgniserregender Beispiele für die Umtriebe des ukrainischen Geheimdienstes stellt der Schriftsteller fest, sein Land werde wieder zum Polizeistaat. Ziel der "Reformen" von Janukowitsch sei es, "anstelle der Ukraine eine Art ‚Russland 2‘ zu schaffen - nur lahmer, rückständiger und noch weniger attraktiv. Und die richtige Gesellschaftsordnung für ein solches Gebilde ist eine Art Neostalinismus feudal-oligarchischen Stils."

Der Geheimdienst unter seinem neuen Chef Valerij Choroschkowskij beschattet Journalisten und Oppositionspolitiker, setzt die Gegner mit administrativen Mitteln unter Druck, erstellt "Loyalitätslisten" und nahm im Juni vorübergehend sogar den deutschen Leiter der Kiewer Vertretung der Adenauer-Stiftung fest. Während Janukowitsch am Montag in Berlin mit Bundeskanzlerin Merkel über die Pressefreiheit sprach, wurde in Kiew zugunsten des von der Frau des Polizeichefs Choroschkowskij geführten Medienimperiums den letzten unabhängigen TV-Sendern ein großer Teil ihrer terrestrischen Frequenzen entzogen. Darüber hinaus kontrolliert der Multimillionär Choroschkowskij als Mitglied des Obersten Justizrats (!) auch die Richter.

Nur fünf Jahre nach der vergessenen, weil letztlich gescheiterten "orangen Revolution" befindet sich die strategisch wichtige und potenziell so reiche Ukraine auf dem Weg zu einem verdeckt autoritären System, fest verbunden mit Russland, statt der damals erhofften Öffnung nach dem Westen. (Paul Lendvai, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2.9.2010)