Jerusalem - Nach Ansicht des israelischen Philosophen Carlo Strenger wäre ein einseitig deklarierter Palästinenserstaat, der zumindest für eine bestimmte Zeit für Israel kein Sicherheitsrisiko darstellen würde, "der einzig mögliche Weg" zu einem Nahostfrieden. In einem in der Zeitung "Haaretz" veröffentlichten Kommentar schreibt Strenger anlässlich der neuen Nahost-Verhandlungen in Washington: "Die Friedensgespräche werden sicher scheitern, aber was werden die Konsequenzen sein?"

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu rechne wohl damit, dass die Palästinenser irgendwann den Verhandlungstisch verlassen würden und er so die Aufrechterhaltung des Status Quo rechtfertigen könne. "Aber ist er auf das, was kommen wird, vorbereitet", fragt der Philosoph und Psychologe Strenger. Er weist darauf hin, dass Netanyahu sich in jüngster Zeit als "Sieger" gefühlt habe. Die USA hätten den Druck von Israel auf die Palästinenser verlagert und diese zu Verhandlungen mit Israel gezwungen. Netanyahus nächster "Sieg" könnte jedoch trügerisch sein.

In der Weltsicht des israelischen Regierungschef müsse Israel, die Stütze des Westens im Nahen Osten, noch lange Zeit mit Bedrohungen rechnen, so Strenger. Jedes Friedensabkommen müsse dies in seinen Augen berücksichtigen. Netanyahu glaube nicht, dass die positive Dynamik eines Friedensabkommens ausreichen werde, Israels Überleben zu garantieren. Netanyahus Wähler teilten aufgrund der Erfahrungen der letzten zehn Jahre, beginnend mit der zweiten Intifada, diese Sichtweise.

Auch das von "Falken" dominierte "Jerusalem Zentrum für Öffentliche Angelegenheiten" vertritt Netanyahus Positionen. In einem Dokument des Zentrums heißt es, ein von der internationalen Gemeinschaft geforderter Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967 sei aus Sicherheitsgründen nicht akzeptabel. Im Falle eines Angriffs aus dem Osten müsste Israel genügend Zeit haben, seine Streitkräfte zu mobilisieren. Daher müsse Israel die Kontrolle über das Jordantal behalten.

Kontrolle über Luftraum

Da Israel extrem verletzlich durch Terrorangriffe sei, etwa im Stil des 11. September 2001, müsse es die völlige Kontrolle über den Luftraum und den Funkverkehr behalten, so das "Jerusalem Zentrum". Sollte ein einziges Passagierflugzeug von Terroristen abgeschossen werden, würde Israels physische Verbindung zur Außenwelt unterbrochen, räumt Strenger ein.

Doch auch Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas (Abu Mazen) stehe unter Druck. Ein großer Teil seiner Klientel hat die Forderung nach Rückkehr aller Palästinenser in ihre alte Heimat nicht aufgegeben. Viele Experten seien der Ansicht, dass viele Palästinenser ein Szenario bevorzugten, in dem der Friedensprozess für tot erklärt würde. Die Palästinensische Autonomiebehörde würde ihre Selbstauflösung erklären und die Palästinenser die israelische Staatsbürgerschaft beantragen. Damit könnten sie zu einer Ein-Staaten-Lösung gelangen und zu einem Staat, in dem die Palästinenser die Bevölkerungsmehrheit stellten, schreibt Strenger.

Abbas könnte dadurch Unterstützung für ein Friedensabkommen mit Israel bekommen, indem man ihm Zugeständnisse in Bereichen mache, denen hohe symbolische Bedeutung zu komme, etwa in der Frage Ostjerusalems oder der Heiligen Stätten. Abbas müsste aber dennoch hart darum kämpfen, um ein Abkommen über einen endgültiges Status seiner Bevölkerung "verkaufen" zu können. Sollte er jedoch Konzessionen in Fragen der Grenze machen, wäre dies völlig unmöglich, schätzt Strenger.

Scheitern vorprogrammiert

Alles in Allem, so der "Haaretz"-Kommentator, sei die Kluft zwischen den Verhandlungsparteien so groß, dass ein Scheitern vorprogrammiert erscheine. Man müsse sich daher mit den wahrscheinlichen Folgen auseinandersetzen.

Das wahrscheinlichste Szenario sei eine Schwächung von Abbas und seines Premiers Salam Fayyad. Die Palästinenser würden den Glauben an eine friedlich Erreichung ihrer Ziele verlieren, es wäre mit einer Wiederaufnahme der Terroranschläge zu rechnen. Dies wiederum würde Israel dazu veranlassen, die Bewegungsfreiheit der Palästinenser einzuschränken. Die Folgen wären internationale Kritik an Israel, seine demokratische Grundordnung könnte bedroht sein.

Auch das Szenario einer Selbstauflösung der Autonomiebehörde erscheint Strenger nicht besonders erstrebenswert. Israel müsste wieder die Kontrolle über die Westbank übernehmen, ohne den Palästinensern die Staatsbürgerschaft zu geben. Der jüdische Staat würde sich dem Vorwurf eines Apartheidregimes aussetzen und seine Bunkermentalität verstärken.

Das einzige Szenario, das positive Ergebnisse bringen würde, wäre die Option, auf die Fayyad in den letzten Jahren hingearbeitet habe, indem er die palästinensische Verwaltung enorm verbessert und brauchbare Sicherheitskräfte geschaffen habe. Sollten die Verhandlungen scheitern, könnten die Palästinenser im kommenden Jahr einseitig einen unabhängigen Staat in den Grenzen von 1967 ausrufen und auf dessen internationale Anerkennung hoffen. Wichtig wäre, dass es in den folgenden Jahren zu keinen größeren Zwischenfällen komme, die die Sicherheit Israels bedrohen könnten. Dies sei der einzige Hoffnungsschimmer, schreibt Strenger. (APA)