Auch im Stalinismus war es so: Was nicht sein durfte, gab es auch nicht. Es stand nicht in der Zeitung, und damit war die Sache in der Regel erledigt. Wenn aber, via Westen, über dessen Hass- und Störsender, ein Thema, das nicht zu sein hatte und deshalb auch gar nicht existierte, trotzdem zu einem Thema wurde, weil man zwar die öffentliche Meinung gleichschalten konnte, aber nicht die Gerüchteküche und auch nicht den politischen Witz, wurde die Angelegenheit umgehend dementiert.

Man dementierte etwas, was man gar nicht kannte und das es offiziell gar nicht gab, aber die Dementierenden taten so, als ginge es um Leben und Tod. Sie warfen sich mit markigen Worten ins Zeug, bis alles wieder vorbei war, vergessen oder überrollt von anderen Sorgen, echten, die man zwangsläufig hatte.

Der Unterschied unserer Querelen zum Stalinismus ist riesig und geringfügig zugleich. Das zeigt sich am Beispiel Sarrazin. Vor dem Mann wird seit vielen Monaten gewarnt. Er sei ein Rassist. Ein Rechtspopulist. Wir stellen fest: Einem Finanzexperten werden wegen politischer Äußerungen Konsequenzen für sein Berufsleben angedroht. Nun sind Sarrazins Thesen in Buchform erschienen. Die meisten haben es noch gar nicht gelesen, aber eine Meinung haben sie sich schon gebildet. Wie immer in solchen Fällen, aufgrund der Zitate, die ihnen ihre Mitarbeiter diskret auf den Morgenschreibtisch gelegt haben. So erfahren wir, dass der Grüne Ströbele wieder einmal entsetzt ist, sein Kollege Volker Beck dagegen, der von Hasstiraden spricht, ist nicht nur entsetzt, er politisiert sein Entsetzen sogar. Er sagt etwas Interessantes. Etwas, das sozusagen den Provokationen von Sarrazin zugrunde liegt. Beck spricht von einer "multikulturellen Demokratie" und behauptet die Integration sei ein "wechselseitiger Prozess" . Sollte es wirklich schon so weit sein? - Was ist denn bitte eine multikulturelle Demokratie? Ist das etwa die Ergänzung des Bürgerlichen Gesetzbuches durch die Scharia? Und wieso ist Integration ein wechselseitiger Prozess? Feiern wir demnächst Ramadan? Gehen wir ab jetzt freitags in die Moschee? Wird der Freitag zum Sonntag, oder wird der Sonntag bald auch nur noch ein Freitag sein? - Wer im Stalinismus etwas öffentlich dementierte, tat dies meist aus Angst vor dem Gulag oder vor dem Genickschuss. Heute geschieht es aus kollektiv legitimierter Dummheit. Sie ist das Ergebnis der Angst davor, in die Wüste geschickt zu werden oder gar den Listenplatz für die nächste Landtagswahl zu verlieren.

Zu den Hauptvorwürfen gegen Sarrazin gehört der des Rechtspopulismus. Was aber ist Rechtspopulismus? Zunächst zum Populismus. Populistisch ist jemand, der dem Volk nach dem Munde redet, auch wider besseres Wissen. Das heißt zumindest, dass seine Aussagen populär sind, das heißt: weitgehend von der Bevölkerung geteilt werden. Wenn also Sarrazins Ansichten populär sind, sollte man sich dann nicht nach den Ursachen erkundigen, anstatt sie bloß abzuqualifizieren?

Sarrazins Buch gehört bereits zu den meistgekauften in diesen Tagen, beim Internethändler Amazon.de wird es zusammen mit Jörg Schönbohms Politische Korrektheit. Das Schlachtfeld der Tugendwächter angeboten.

Der Erfolg dieser Bücher zeigt das einschlägige Diskussionsbedürfnis der Bevölkerung. Dem sollte man Rechnung tragen, gerade als demokratisch gewählter Politiker. Gabriel, der SPD-Vorsitzende, sollte nicht, zur Beruhigung seiner politisch korrekten Klientel, als Erstes ankündigen, er werde das Buch prüfen, sondern sich mit den Thesen seines Parteigenossen auseinandersetzen. (Richard Wagner/DER STANDARD, Printausgabe, 1.9.2010)