Strahlentherapie im Wiener AKH: Spitäler verzeichnen in Österreich einen größeren Ansturm als anderswo in Europa - und werden damit allmählich selbst zu Patienten.

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Wien - "Wir reparieren Leute, wenn die Krankheit schon weit fortgeschritten ist": So beschreibt Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS) eine Eigenart des Gesundheitssystems, die sich auch in der Statistik widerspiegelt. Nirgendwo sonst in Europa strömen die Bürger so zahlreich ins Spital, nirgendwo sind die Kosten pro Kopf höher. Ein Zeichen für ein besonders vitales Volk? Nein, meint Czypionka: "Gesundheitssysteme, die weniger spitalslastig sind als das österreichische, sind im Prinzip besser." Viele etwa wegen Herzinfarkten oder den Folgekrankheiten von Diabetes angetretene Spitalsbesuche könnten dank besserer Vorsorge erspart bleiben - angefangen beim Turnunterricht bis zu diversen Versorgungseinrichtungen außerhalb der Spitäler.

Studien bestätigen Czypionkas These. Die Forscher der New Yorker Johns Hopkins University haben internationale Untersuchungen zusammengefasst. Demnach dämmt "Primary Care", wie das Prinzip im Fachjargon heißt, nicht nur Krankheiten und Todesfälle, sondern auch die soziale Schieflage - je ärmer, desto kränker - ein.

Überzählige Spitalsbetten abbauen, eingespartes Geld in Primary Care investieren, lautet Czypionkas Empfehlung. Hemmnis seien die falschen Anreize im Finanzierungssystem. Ein Beispiel von vielen: Für ihre Ambulanzen bekommen die Spitäler die Kosten pauschal abgegolten, für ihre Betten pro Fall. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist es deshalb lukrativ, Patienten stationär aufzunehmen - aus volkwirtschaftlicher Sicht jedoch teuer.

Dass die Spitalsbetten dennoch unverzichtbar seien, weil - wie das Land Niederösterreich mit einer Studie argumentiert - viele Arbeitsplätze daran hingen, leuchtet Czypionka nicht ein. Die begrenzte Sicht blende aus, dass dann Geld an anderer Stelle - etwa für Pflege - fehle. Und die Sinnfrage müsse man auch stellen: "Nach derselben Logik könnte man auch einfach Arbeiter einstellen, um ein Loch zu graben und wieder zuzuschütten." (Gerald John, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28.8.2010)