Neulich vor Neufundland in Kanada: Ein Rudel Orcas umzingelt einen Zwergwal, verletzt ihn und frisst ihn schließlich vor den Augen schockierter Touristen auf.

Foto: David Snow

Jeannine Winkel hat sich gefreut, zum ersten Mal in ihrem Leben Orcas zu sehen. Aber nie im Leben hat die 27-Jährige mit dem blutigen Drama gerechnet, das sich vor der Küste der kanadischen Insel Neufundland abspielte. Etwa fünfzehn Orcas näherten sich dem Beobachtungsboot, auf dem sie in diesem Sommer als Touristenführerin arbeitet.

In der Mitte der Orcas befand sich ein Zwergwal, den die Herde unerbittlich jagte – und so ihrem Zweitnahmen alle Ehre machten: "Die Killerwale bissen ihm die Schwanzflosse ab und drückten ihn unter Wasser", erzählt die aus Deutschland stammende Biologin. "Sie rissen Stücke aus dem Zwergwal heraus, als er noch lebte. Es war ziemlich brutal."

Das Walbeobachtungs-Unternehmen Molly Bawn im Dorf Mobile an der Südostküste Neufundlands hatte am 12. August Berichte über eine Herde Killerwale. Das Boot steuerte auf die Stelle zu, und bald waren die Meeressäuger auch zu sehen. Aber plötzlich entdeckte Winkel den verletzten Zwergwal zwischen ihnen. Die Touristen aus der Ukraine, die mit ihr auf dem Boot waren, verstanden zuerst nicht, was sich da vor ihren Augen abspielte.

Zwergwal-Blut im Wasser

"Für die sind Orcas süße Tiere, die im Wasser herumplanschen", sagt Winkel. Dann sahen die Touristen das Blut im Wasser und reagierten schockiert, aber auch fasziniert. "Ich erklärte ihnen, dass es ein absolut seltenes Ereignis ist, dass Menschen so etwas beobachten können". Da wusste sie noch nicht, dass Touristen innerhalb einer Woche gleich drei solche Vorfälle vor Neufundland beobachten konnten. Bob Bartlett aus Trinity war am 17. August mit Touristen aus England und den USA auf Walbeobachtung, als Killerwale einen Zwergwal angriffen. "Sie packten seinen Kopf und zogen ihn unter Wasser", erzählt der Besitzer von Eco Tours. "Es war ein ziemlich bösartiger, gezielter Angriff, sie verhielten sich wie Haie."

Es ist das erste Mal, dass Bartlett Orcas in der Gegend sah. Normalerweise halten sich in der Bucht von Trinity Buckel-, Finn- und Zwergwale auf. Das sind keine Fleischfresser wie viele Orcas. Bartlett bemerkte an jenem Tag ein großes Orca-Männchen und vier Weibchen mit zwei Jungen in der Herde: "Sie kamen immer näher, bis sie nur zehn Meter vom Boot weg waren." Er hatte den Eindruck, das Männchen habe den Jungen gezeigt, wie man jagt. "Die haben den Zwergwal gefressen", sagt er. "Stücke von Walfleisch schwammen überall im Wasser."

Dass Orcas Robben jagen, ist eine bekannte Tatsache, aber der kanadische Walexperte Wayne Ledwell sagt, manchmal machten sie auch Jagd auf Buckelwale, die achtmal größer als Orcas sind. Das sei gefährlicher für die Orcas, da Buckelwale riesige Schwanz- und Rückenflossen haben und deshalb oft entkommen. Häufig sind Bissnarben auf den Schwanzflossen von Buckelwalen zu sehen. "Um die Beute zu töten, beißen die Killerwale die Schwanzflosse ab, um die Beweglichkeit zu nehmen", sagt Ledwell.

Die Orcas jagen in Rudeln wie Wölfe, und laut Ledwell sind ihr Ziel vor allem verletzte oder junge Wale. Es wurde auch schon beobachtet, wie sich verfolgte Zwerg- und Buckelwale in die Nähe von Booten zu retten versuchten. Die schwarz-weißen Orcas sind acht bis zehn Meter lang und die größte Delphinart. Sie verhalten sich je nach Gegend unterschiedlich. In den Gewässern vor der kanadischen Provinz British Columbia fressen die ansässigen Orcas nur Fische. Jene Killerwale, die sich zeitweise in der Gegend aufhalten und dann weiterziehen, ernähren sich auch von anderen Meeressäugetieren.

Herausgerissene Genitalien

Der kanadische Wissenschafter David Snow erforscht die rund 200 Killerwale vor der Küste vor Neufundland, die wie Nomaden herumziehen. Snow hat schon mehrfach Orcas beim Jagen beobachtet und wie sie einen rund 10 Meter langen Zwergwal umzingeln. "Sie hindern ihn am Schwimmen, indem sie ihn beidseitig wie im Sandwich festklemmen", sagt Snow. "Oft reißen sie ihm die Zunge und die Genitalien heraus." Der Verlust der Genitalien führe beim Zwergwal zu einem starken Blutvergießen, sagt Snow: "Es ist wie ein Todesstoß."

Normalerweise spielten sich diese Dinge auf hoher See und nicht vor Touristen ab. Snow kann verstehen, dass der Anblick solcher Vorgänge manche Menschen schockiere. "Es ist ähnlich dramatisch, wie wenn Löwen einen sehr viel größeren Elefanten attackieren."

Aber das sei nun einmal der Lauf der Natur, sagt Snow: "So ernähren sich diese Tiere, und das haben sie schon immer getan." (Bernadette Calonego aus St.Anthony, Neufundland/DER STANDARD, Printausgabe, 25.08.2010)