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"Abschweifen vom geraden Weg der Effizienz" und durch Nichtstun ein Stück Freiheit lukrieren: Ein Urlauber an der Ostseeküste geht seinen schulpflichtigen Kindern mit gutem Beispiel voran.

Foto: dpa/dpaweb

Die Kinder sind in den Sommerferien, und im STANDARD wird der Ruf nach "kürzeren, sinnvolleren Ferien" laut. Barbara Coudenhove-Kalergi schrieb vergangene Woche an dieser Stelle, die langen Ferien seien eine "verlorene Zeit". Was sollen wir uns unter einer verlorenen Zeit vorstellen? Wohl dass die Kinder nur herumhängen - ungefördert, ineffizient, sinnlos die Zeit totschlagend in dieser viel zu langen Periode, in der sie aus dem produktiven, effizienten, sinnvollen Tun an den Schulen ausgeklinkt sind. Ja, Schüler und Eltern würden gar, so Coudenhove-Kalergi voller Überzeugung, den Tag herbeisehnen, an dem die Schule wieder losgeht. Ergo der Ruf nach kürzeren Schul-Sommerferien und nach schuleigenen, fördernden Ferienprogrammen. So. Und ich will hier einmal mal eine Lanze fürs Nichtstun brechen. Kinder und junge Leute haben ein Recht darauf, ihre Zeit - manchmal - auch sinnlos zu verbringen. Sie haben ein Recht darauf, den obligaten Effizienz-Leistungs-Förderungsstrukturen - zeitweise - zu entkommen.

Ja, es ist ein Problem für viele Eltern, diese schulfreie Zeit ihrer Kinder zu organisieren. Ja, es gibt die Diskrepanz zwischen Unterschichtkindern, die vorm Fernseher geparkt werden, und Kindern aus anderen Schichten. Natürlich gibt es das alles. Aber klammern wir die soziale Problematik ausnahmsweise einmal aus. Nicht aus Ignoranz oder Hochnäsigkeit, sondern weil dies nicht das eigentliche Thema ist. Thema ist vielmehr das überbordende Leistungsprinzip in unseren pädagogischen Diskursen. Das beginnt schon bei den Jüngsten, die ein Förderungsprogramm mit knallhartem Zeitkorsett absolvieren sollen und endet bei Hochschulkonzepten, die keinen anderen Parameter als den der Effizienz gelten lassen.

Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist kein Plädoyer gegen Bildung, sondern ein Plädoyer gegen den Kurzschluss von Bildung und Leistung. Denn Bildung kann auch ganz andere Wege gehen, Wege jenseits von Bologna und Pisa. Sie kann, ja sie muss vielleicht sogar Umwege nehmen, abschweifen vom geraden Pfad der Effizienz. Und solche erlaubten Abschweifungen sind beispielsweise eben die Sommerferien.

Diese endlosen Kindersommer sind oftmals die einzige wirkliche Auszeit im Leben. Das bedeutet eine Erfahrung von Freiheit und Sorglosigkeit, wie man sie sonst nicht oft machen kann.

Ich gestehe, ich habe zu Beginn der Ferien gemeinsam mit meinem Sohn sein sogenanntes Ferienheft mit Übungen und Beispielen entsorgt. Nicht, weil ich meinen Sohn nicht fördern würde. Nicht, weil mir seine Ausbildung unwichtig, seine Entwicklung gleichgültig wäre. Nein, ich tat es, gerade weil ich Wert darauf lege. Das lange Nichtstun ist nur scheinbar, nur aus einer verengten Perspektive betrachtet, sinnlos. Tatsächlich ist diese Freiheitserfahrung ein wesentliches Bildungsmoment. Freie Zeit ist der Ausgangspunkt für kreative Entwicklungen, für Autonomie. Man muss sie nicht mit Förderungsprogrammen füllen. Sie ist vielmehr selbst eine Art von Förderungsprogramm. Dessen Wirkungen sind vielleicht nicht messbar, aber evident - wenn man etwa sieht, welchen Entwicklungsschub Kinder gerade in diesen freien Zeiten machen. Diese Ferienwochen sind eine Zeit des Reifens, wie man bei Schulbeginn immer wieder feststellen kann.

PS: Letztes Jahr hat mein größerer Sohn an einer Schülerdemonstration teilgenommen und ist danach den ganzen Vormittag mit den anderen Demonstranten durch die Straßen gezogen. Als er zurückkam, war er sichtbar verändert. Er war "größer" geworden. Nicht wegen der Demonstration, sondern wegen der dafür eroberten freien Zeit, also einer ersten Freiheitserfahrung. In diesem Sinne sollten wir unsere pädagogischen Diskurse überdenken: keine Disziplinierung ohne Überschreitung. Keine Leistung ohne Auszeit. Keine Bildung ohne Freiheit. Für "sinnlose" Ferien! (DER STANDARD-Printausgabe, 24.8.2010)