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Die Veränderungen in den Arbeitswelten erscheinen so basal, dass man sie oft nicht für der Erwähnung würdig hält.

Foto: AP/Oded Balilty

Heidi Aichinger sprach mit Michael Gemperle, einem der drei Herausgeber vom Soziologischen Seminar der Universität St. Gallen.

STANDARD: Sie bezeichnen Ihr Buch "Ein halbes Leben" , das Sie gemeinsam mit Franz Schultheis und Berthold Vogel herausgeben, als "Radiografie der heutigen Arbeitswelt" und lassen rund 50 Arbeitnehmer unterschiedlicher Branchen und sozialer Ebenen sprechen. Warum dieser Ansatz?

Gemperle: Wir wollen der eher abstrakten Diskussion über den Wandel der Arbeitswelt die Sicht von Arbeitnehmenden entgegenstellen, sammelten dafür Zeugnisse von exemplarischen Beschäftigten mit langjähriger Erfahrung in ihrem Arbeitsbereich und werteten diese nach der verstehenden Methode von Pierre Bourdieu aus: Diese zielt darauf ab, die Arbeitnehmenden in ihren gesellschaftlichen Bedingtheiten und Notwendigkeiten, ihren Sorgen und Nöten, aber auch ihren Ambitionen und Freuden zu verstehen. Es ist ein Zugang, der uns erlaubt, neue Einsichten in die Entwicklung der Arbeitswelt zu eröffnen.

STANDARD: Das unterscheidet Ihr Buch von vielen anderen, die sich mit diesem Thema beschäftigen ...

Gemperle: Wie gesagt hatten wir ein gewisses Unbehagen über den vorherrschenden medialen und politischen Diskurs über die Arbeitswelt. Oft kursieren sehr vereinfachende Interpretationen, die nicht selten der Sache und meist den Erfahrungen der betroffenen Menschen wenig gerecht werden.

Unser Buch stellt sich diesen generalisierenden Einschätzungen entgegen, die die Entwicklung der Arbeitswelt über Zahlenreihen einzufangen versuchen, oder mit pauschalen Zeitdiagnosen philosophischer Art operieren, wie etwa mit der Idee der Wissensgesellschaft.

STANDARD: Die gibt es nicht?

Gemperle: Der empirische Beweis muss erst erbracht werden, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse derart grundlegend verändert haben, wie es solche Diagnosen unterstellen. Diese Thesen dienen eher politischen Interessen, als dass sie wissenschaftlichen Anforderungen genügen. Die Idee der Wissensgesellschaft steht offensichtlich in Verbindung mit Bemühungen, bestehende Anerkennungsformen von Arbeit anzugreifen und die Arbeitnehmenden dazu anzuhalten, sich den Anforderungen von Konzernen entsprechend weiterzubilden, möglichst auf eigene Kosten ...

STANDARD: Sie beschreiben den "employable man" als Opportunisten, der seinen Marktwert stetig steigert und sich mit einem situationsabhängigen Leben begnügt ...

Gemperle: Beim Konzept der "Employability" verhält es sich ähnlich. Es fordert die Menschen ja mehr oder weniger dazu auf, sich den dominanten Erwartungen an Arbeitskräfte anzupassen. Ein englischer Begriff wirkt natürlich weniger unangenehm und autoritär als die Aufforderung "Ihr müsst euch anpassen" . Die Funktion dieses "new speak" wird häufig unterschätzt.

STANDARD: Für Ihr Buch haben Sie Menschen befragt, die rund 20 Jahre im selben Bereich tätig sind, um die Veränderungen ihrer Arbeitswelten zu dokumentieren. Diese Veränderungen sind über sämtliche Branchen hinweg sehr ähnlich.

Gemperle: Ja. Und sie erscheinen so basal, dass man sie oft nicht für der Erwähnung würdig hält, obwohl sie tiefgreifende Implikationen auch auf das Leben neben der Arbeit haben: Erstens hat die Arbeit sich erheblich intensiviert. Das zeigt sich in mehr Überstunden, der Abnahme der Pausenzeiten, der Zunahme des Drucks, in vermehrtem Stress.

Zweitens haben die materiellen und symbolischen Gratifikationen für Arbeit abgenommen. Bei den Löhnen ist es hinlänglich erwiesen, dass sie in vielen Bereichen seit geraumer Zeit nicht mehr mit der Produktivitätsteigerung Schritt halten. Auf Ebene der Anerkennung meinen wir eine analoge Entwicklung erkannt zu haben. Die Anerkennung der Arbeit durch Vorgesetzte, den Betrieb oder die Gesellschaft scheint in vielen Bereichen erheblich abgenommen zu haben. Insgesamt ergibt sich das Bild, dass tendenziell mehr gearbeitet und materiell und anerkennungsmäßig weniger dafür erhalten wird. Drittens konnten wir feststellen, dass die Dynamik der Prekarisierung zunehmend auch auf Menschen in scheinbar stabilen Arbeitsverhältnissen wirkt, weil sie bei diesen eine starke innere Verunsicherung hervorruft.

STANDARD: Wie kann man das verbessern?

Gemperle: Wenn diese Entwicklung rückgängig gemacht werden soll, gibt es fast keine andere Möglichkeit, als Gegendruck aufzubauen. Historisch war dies dann am erfolgreichsten, wenn sich die Arbeitnehmer zusammengetan und für ihre Rechte gekämpft haben.

Es ist bekannt, dass etwa dort, wo Gewerkschaften stark sind, die Arbeitsbedingungen in der Regel weniger schlecht sind als andernorts. In vielen Gesprächen kam zum Ausdruck, dass die Beschäftigten versuchen, den Zumutungen, denen sie ausgesetzt sind, etwas entgegenzusetzen. Nicht selten wird dabei die eigene Vorstellung, wie die Arbeit auszuüben ist, ins Spiel gebracht und hochgehalten. Meist bleibt die Widerständigkeit aber unterschwellig.

STANDARD: Welches Ziel verfolgen Sie nun mit diesem Buch?

Gemperle: Wir hoffen, dem Leser einen Einblick in die Erfahrungen anderer in verschiedenen Arbeitswelten zu geben, damit sich jeder selbst in seiner eigenen Arbeitserfahrung ernster nehmen kann. Weil gerade die pauschalen Konzepte es sind, die den Arbeitenden vermitteln, dass ihre eigene Wahrnehmung weniger wert ist. Wenn Solidarität in der Gesellschaft möglich ist, dann nur, wenn man andere Menschen in ihrer Existenz versteht. Einblicke in andere Lebens- und Arbeitswelten zu eröffnen, ist eine Einladung dazu.

STANDARD: Wie geht es Ihnen mit dem Bild, das Sie uns zeichnen?

Gemperle: Es schließt aus, dass wir in der besten aller Welten leben. Wir sind alle von Mythen umgeben - beruflich wie privat. Es gilt diese zu entkräften, weil nur ein klarer Blick es uns erlaubt, die Gesellschaft in einer Form zu verändern, die unser aller Bedürfnisse entspricht. (DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.8.2010)