Rote Haare und ein offenes Herz: Isabelle (Sophie Desmarais) verleiht Denis Côtés preisgekrönter Beschreibung einer frankokanadischen Dorfgemeinschaft eine großstädtische Note.

Foto: Filmfestival Locarno

Zu einem denkwürdigen Zusammentreffen zweier gegensätzlicher Persönlichkeiten des Weltkinos kam es kurz vor Ende des Filmfestivals Locarno: Zunächst wurde auf der Piazza Grande dem 81-jährigen israelischen Produzenten und Regisseur Menahem Golan, dem Schöpfer eines riesigen Katalogs schillernder B-Movies, Trash-Skurrilitäten, aber auch von Autorenfilmen wie John Cassavetes' Love Streams, ein Ehrenleopard für das Lebenswerk zuerkannt. Danach betrat Nicola Lubitsch, Tochter von Ernst Lubitsch, die Bühne, um eine Eloge auf das Kino als Kunstform zu halten, während auf die umliegenden Häuser des Platzes Bilder aus Filmen ihres Vaters projiziert wurden, dem die diesjährige Retrospektive galt.

Das Schweizer Filmfestival, das kleinste unter den großen A-Festivals, hat unter der Leitung des neuen Direktors Olivier Père wieder an Selbstbewusstsein gewonnen. Anstatt mit mittelmäßigem Qualitätskino verkrampft den eigenen Status zu betonen, leistet man sich eigensinnige Schwerpunkte, die ein breiteres Verständnis von Filmgeschichte verraten. Der 39-jährige Franzose hat bis 2009 die Quinzaine des Réalisateur geleitet, die renommierte Nebensektion in Cannes. Dass er deren cinephile Traditionspflege bei gleichzeitiger Suche nach radikaleren Formen auch im Tessin weiter zu pflegen gedenkt, konnte man schon an einem neuen Trailer erkennen, der geradezu schamlos jenen der Croisette imitierte. Das nennt man eine Ansage.

Die schwierigere Aufgabe hatte Père allerdings mit dem Wettbewerb zu bewältigen, der durch die zeitliche Nähe zum prominenteren Festival in Venedig benachteiligt ist. Aber auch hier war die Mühe zu erkennen, kantigen, mutigen, mitunter auch nur pseudo-provokativen Filmen den Vorzug gegenüber Konsensarbeiten zu geben, ein erster Schritt, der sich in den nächsten Jahren bezahlt machen könnte. Die Jury unter der Leitung des Filmemachers Eric Khoo aus Singapur hat diese Linie bestätigt und sich für konzentrierte, stilistisch durchaus ungewöhnliche Arbeiten wie Curling entschieden, Denis Côtés verhaltenes Drama um eine Vater-Tochter-Beziehung (beste Regie und bester Hauptdarsteller).

Der Chinese Li Honqqi erhielt für Han jia (Winter Vacation), eine staubtrockene Komödie über den Stillstand der Jugend seines Landes, am Samstagabend den Goldenen Leoparden. Statische Einstellungen, in denen wenig passiert, am Ende aber dann meist eine böse Pointe lauert, führen durch den letzten Ferientag von ein paar Halbwüchsigen in einem nördlich gelegenen chinesischen Dorf: Die jüngsten Kinder dort wünschten, sie wären Waisen, um sich der familiären Unterdrückung zu entziehen, die etwas älteren siechen auf einer Couch dahin, schlagen sich gegenseitig auf den Kopf oder führen Gespräche, die ständig im Kreis verlaufen.

Agonie und Sturheit

Zeit vergeht in Winter Vacation qualvoll langsam, die Verhaltensmuster wiederholen sich öfters, manche Gags wirken zu forciert, aber die formale Strenge, mit der Li Honqqi diesen Totalausfall an Perspektiven einfängt, ist bemerkenswert. Hinter der Deadpan-Komik, die man im gegenwärtigen chinesischen Kino in dieser Form noch nicht gesehen hat, schwelt die Verzweiflung über die Agonie einer Region, die von der beschleunigten Marktwirtschaft der Metropolen bisher völlig unberührt geblieben ist.

Eine komische Schlagseite hat auch Morgen, ein Film des Rumänen Marian Crisan, dem der Spezialpreis der Jury zuerkannt wurde; wie in Winter Vacation ist darin vom ökonomischen Wandel des Landes im Lebensalltag der Protagonisten nichts zu bemerken. Nelu arbeitet als Sicherheitswächter in einem Supermarkt, seine eigentliche Leidenschaft aber ist das Fischen. Crisan stellt den schweigsamen Mann vor neue Herausforderungen, indem er ihn auf einen türkischen Flüchtling treffen lässt, der auf dem Weg nach Deutschland an der Grenze zu Ungarn gestrandet ist.

Während andere Filme schnell in ein betuliches humanistisches Drama kippen, gerät dieser zur lakonischen Beschreibung eines Duos, das sich eher stur denn kämpferisch gegen staatliche Autoritäten erhebt. Der vermeintliche EU-Gemeinschaftssinn wird durch bürokratische Schikanen und grenznachbarschaftliche Feindseligkeiten humorvoll infrage gestellt. Crisans Blick auf dieses Sumpfland der Neider und Egoisten ist originell und sympathisch unprätentiös.

Mit Bogdan George Apetris Debüt Periferic war noch ein zweiter rumänischer Film - mit österreichischer Produktionsbeteiligung - im Wettbewerb vertreten: Druckvoll erzählt er vom Versuch der jungen Matilda, während eines eintägigen Hafturlaubs die Voraussetzungen dafür zu schaffen, für immer das Land zu verlassen. Weniger die im sozialrealistischen Gestus gehaltene, etwas formelhafte Fabel um den Hindernislauf einer jungen Frau ist an diesem Film so hervorhebenswert als die körperliche Präsenz der Hauptdarstellerin Ana Ularu, die mit zusammengebissenen Zähnen gegen lauter ungehaltene Versprechen aufbegehrt. Auch ihr hätte man einen Preis gewünscht. (Dominik Kamalzadeh aus Locarno, DER STANDARD/Printausgabe 18.6.2010)