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Die Emigranten stellten fest: Amerika nimmt nicht jeden auf: Von der Zulassung sind ausgeschlossen: Kranke, irrsinnige Personen, Mittellose und Bedürftige ...

Foto: REUTERS/Chip East

Von diesem Moment hat Mendel Beck seit Jahren geträumt. Er hat Pläne geschmiedet und wieder verworfen, er hat die Annoncen von Schifffahrtsbüros in den Zeitungen studiert, er hat sich mit Freunden beraten, er hat die Ohren gespitzt und sich alles eingeprägt, wenn ein Rückkehrer in der Schule von Amerika erzählte, vom Leben in New York, von den hohen Häusern, von denen eines so viele Menschen beherbergt wie in Galizien ein ganzes Dorf Einwohner hat, sodass man nicht einmal die Namen der nächsten Nachbarn kennt. Die Straßen sind so lang, dass man ihr Ende nicht sieht. Und immer sind sie voller Menschen, manche sind schwarz wie die Nacht, das Gesicht, die Hände, und alle rennen und hasten scheinbar ziellos herum. Mendel Beck hat diese Geschichten in sich aufgesogen, er hat eifrig gespart, sich vieles versagt, bis er endlich das Geld für die Überfahrt beisammen hatte. Zusammen mit seinem Freund Abraham Feld und drei anderen jungen Männern ist er mit der Eisenbahn Vierter Klasse nach Przemyśl gefahren, von Przemyśl nach Krakau und von dort nach Oświęcim. Einen ganzen Tag dauerte die Reise. Unterwegs erzählten sie keinem von ihren Plänen, wenn sie jemand nach dem Ziel ihrer Reise fragte, gaben sie ausweichende, nichtssagende Antworten. Auf dem Bahnhof von Krakau hielten sie Ausschau nach Polizisten und machten dann einen weiten Bogen um sie.

Das ist also New York

Die Schiffskarten kauften sie in Oświęcim, in der Hamburger Agentur im Hotel de Zator, gegenüber dem Bahnhof. Ein stämmiger Mann wies ihnen den Weg dorthin, er begleitete sie vom Bahnhof bis zur Tür, wobei er sie nicht aus den Augen ließ, als sei er in Sorge, die fünf jungen Männer könnten sich auf dem Weg über den Bahnhofsvorplatz verlaufen. Im Büro der Agentur hing der kaiserliche Adler, das flößte ihnen Vertrauen ein. Ein Angestellter fragte sie aus, wohin sie wollten, wie viel Geld sie hätten, ob das ihre erste Reise nach Amerika sei. 66 Gulden musste jeder für die Schiffskarte erlegen. Sie versuchten den Preis herunterzuhandeln, doch da wurde der Mann grob und meinte, sie hätten noch Glück, am nächsten Tag würde die Passage noch mehr kosten, außerdem sei damit alles bezahlt, der Aufenthalt in Hamburg bis zur Abfahrt des Schiffes, Kost und Logis, alles erstklassig und das Essen koscher. Dann gab er ihnen einen Zettel mit der Adresse: Louis Fries, Allgemeines Auswanderer-Haus, Neumannstraße 22.

Als sie in der Neumannstraße die Schiffskarten vorwiesen und nach einem Zimmer fragten, für Übernachtung und Essen hätten sie schon bezahlt, schüttelte der Inhaber bloß den Kopf. Für einen Schlafplatz in einer stickigen Kammer mit einem einzigen schmalen Bett, auf dem zur Not zwei von ihnen Platz fanden, die anderen mussten mit einem Strohsack auf dem Fußboden vorlieb nehmen, knöpfte er jedem sechs Gulden ab, fürs Essen wollte er extra kassieren, darauf verzichteten sie.

Das ist also New York. Mendel Beck steht mit seinen Begleitern auf dem Deck des Liniendampfers "Suevia" der Hapag, mit dem sie aus Hamburg gekommen sind. Es nieselt. Er sieht eine riesige Frauengestalt aus dem Nebel ragen, ein Mann neben ihnen, ein älterer Jude aus Lemberg, sagt, das sei die Freiheitsstatue. Es ist Montag, der 14. Mai 1888.

Mendel Beck ist 25 Jahre alt und kommt aus Lisko am San. Die kleine Bezirksstadt in den Waldkarpaten zählt rund 4000 Einwohner, etwa sechzig Prozent von ihnen sind Juden. Beck ist von Beruf Schuster, eigentlich Flickschuster. Er hat noch nie ein Paar neuer Schuhe angefertigt, immer nur alte, zerfallene repariert. Die meisten Bewohner der Kleinstadt sind arm und können sich kein neues Schuhwerk leisten.

Abraham Feld ist ebenfalls aus Lisko gebürtig, von Beruf ist er Schneider. Die anderen Begleiter Becks, Hersch Springler, Hersch Lockspeiser und Jossel Rabock, stammen aus dem südlich von Lisko gelegenen Städtchen Baligród, sie haben sich auf der Fahrt nach Przemyœl kennengelernt und beschlossen zusammenzubleiben. Viele Auswanderer sind in Gruppen unterwegs, das gibt ihnen während der langen, beschwerlichen Reise das Gefühl einer gewissen Sicherheit. Auch in Amerika bleiben sie gern beisammen, in gemeinsamen Wohnvierteln und am Arbeitsplatz, Polen, Ukrainer, Slowaken, Juden ...

Jossel Rabock ist mit 16 Jahren der Jüngste der Gruppe, die anderen sind Mitte 20. Jeder von ihnen hat bloß ein größeres Bündel dabei, nicht viel für jemanden, der die Heimat vielleicht für immer verlässt. Als Beruf steht bei ihnen, wie bei den acht Slowaken, die ein paar Wochen vor ihnen nach New York gekommen sind, "workman" in der Passagierliste der "Suevia" , die Kapitän Heinrich Barends bei der Ankunft den amerikanischen Einwanderungsbehörden übergibt.

Mendel Beck und seine Begleiter haben die Überfahrt gut überstanden, wenn man von der Seekrankheit absieht, unter der sie alle litten. Die Reise hat vierzehn Tage gedauert, sie haben am 30. April Hamburg verlassen, in Richtung Le Havre, wo das Schiff noch weitere Passagiere aufnahm. Die "Suevia" , ein schon in die Jahre gekommener, rostiger Dampfer mit einem Schornstein und zwei Masten, war bei ihrem Stapellauf 1874 dafür eingerichtet, hundert Personen in der Ersten, siebzig in der Zweiten und 600 in der Dritten Klasse, im sogenannten "steerage" oder Zwischendeck, zu befördern. Als sie im Mai 1888 im Hafen von New York einläuft, hat sie laut Passagierliste mehr als tausend Zwischendeckpassagiere an Bord, Auswanderer aus ganz Europa, auch aus Österreich. Viele Österreicher kommen aus Galizien und Ungarn.

Die Tatsache, dass die "Suevia" statt 600 Zwischendeckpassagieren, wie beim Stapellauf vorgesehen, fast doppelt so viele befördert, lässt die Zustände erahnen, die Mendel Beck und seine Begleiter im Zwischendeck vorfinden. Menschen verschiedenster Nationen, Religionen und Sprachen, die sich untereinander nur mit Mühe verständigen können, auf engstem Raum zusammengepfercht, lediglich Waschräume und Toiletten sind getrennt. Nach kurzer Zeit befinden sie sich in einem unbeschreiblichen Zustand. Beck muss sich überwinden, das Essen hinunterzuwürgen, das ein Mitglied der Besatzung aus einem riesigen Kessel in seine blecherne Menageschale schöpft, die er vor der Abfahrt in Hamburg gekauft hat; Hersch Springler und Jossel Rabock, gläubige Juden, rühren das Essen nicht an, es ist nicht koscher. Sie ernähren sich ausschließlich von selber mitgebrachten Lebensmitteln: Zwieback, Brot, Zwiebeln, Tee, heißem Wasser mit einem Schuss Branntwein und ein wenig Zucker, um ihm etwas Geschmack zu verleihen. Die meiste Zeit sind sie ohnehin seekrank und kaum imstande, etwas zu sich zu nehmen. In den niedrigen, schlecht beleuchteten Räumen, vollgestellt mit Stockbetten, stinkt es nach ungewaschenen Kleidern und Körpern, verdorbenen Lebensmitteln, Erbrochenem, Urin und Exkrementen.

Bevor man die fünf Galizier in New York an Land gehen lässt, müssen sie die Einwanderungsstation Castle Garden passieren, um befragt und untersucht zu werden. Wie Vieh werden die Zwischendeckpassagiere von Bord getrieben, quick!, szybko!, schneller!, in verschiedenen Sprachen hageln Befehle auf sie nieder, Beck und Feld versuchen, einander nicht aus den Augen zu verlieren, auch die anderen weichen ihnen nicht von der Seite. So gelangen sie in einen großen Saal mit Unterteilungen, an Rinderpferche erinnernd. Dort werden sie abermals in Gruppen geteilt und müssen, einer nach dem anderen im Gänsemarsch, an Uniformierten vorbeimarschieren, von denen sie genau gemustert werden. Ein klein gewachsener älterer Mann stellt Mendel Beck auf Jiddisch ein paar Fragen, von wo er kommt, wie viel Geld er dabeihat, ob er schon einen Arbeitsplatz in Aussicht hat (erfahrene Reisende auf dem Schiff haben ihm eingebleut, die Frage unbedingt zu verneinen). Er kann vor Aufregung nur den Kopf schütteln.

Amerika nimmt nicht jeden auf, der an seine Tür klopft. Von der Zulassung sind ausgeschlossen: Kranke und Bresthafte; idiotische und irrsinnige Personen sowie Epileptiker; Mittellose und Bedürftige, von denen zu erwarten ist, dass sie der öffentlichen Hand zur Last fallen könnten; Personen, die eines Verbrechens überführt wurden oder einen unmoralischen Lebenswandel pflegen, Prostituierte oder Personen, die Frauen zum Zweck der Prostitution anwerben beziehungsweise ins Land bringen wollen; Personen, die Vielweiberei treiben; Anarchisten oder Individuen, die sich zum gewaltsamen Umsturz der Regierung der Vereinigten Staaten oder der Regierung eines anderen Landes oder zur Ermordung öffentlicher Beamter bekennen; schließlich Personen, die auf Antrag, Ersuchen, Versprechen oder Vereinbarung irgendeine Arbeit oder bezahlten Dienst in den Vereinigten Staaten (Kontraktarbeit) übernehmen wollen.

In Wahrheit sind die Auswahlkriterien nicht ganz so streng, wie sie klingen, unter den Immigranten befinden sich zahlreiche Habenichtse, bitterarme Leute mit nicht mehr als einem Bündel voll schäbiger Kleider und ein paar Töpfen. Auch Mendel Beck führt nur ein Reservehemd, ein zweites Paar Schuhe (die hat er vor der Abreise eigenhändig neu besohlt), ein paar persönliche Kleinigkeiten wie einen Gebetsschal und Tefillin, Gebetsriemen, mit sich. Deshalb ist er ja nach Amerika gekommen - weil er arm ist und nichts hat.

Besonders genau werden die Ankömmlinge auf ansteckende Krankheiten untersucht, keine leichte Aufgabe angesichts der mit einem einzigen Schiff ankommenden Massen: Genickstarre, Pocken, Trachom, Typhus und Fleckfieber, Tuberkulose oder Schwindsucht, auch als "jewish disease" , jüdische Krankheit, bezeichnet. Die Zwischendeckpassagiere der "Suevia" ziehen an den Ärzten vorbei, von Zeit zu Zeit werden verdächtige Fälle, Menschen mit Behinderungen und ernsten Beschwerden, Bucklige und Lahme, Blödsinnige und Senile, Krätzige und Lepröse mit einem Kreidezeichen markiert. Aussortiert zur gründlichen Inspektion. Eine junge jüdische Frau wird von ihrem Mann getrennt, er hält einen kleinen Buben an der Hand, das Kind beginnt zu weinen, die Frau fällt vor dem Arzt auf die Knie, ringt die Hände, er macht bloß eine Handbewegung, weiter, schneller, szybko. Sie wird aus der Reihe gezerrt.

Hat jemand geschwollene Augen, wird das Lid hochgeschoben, mit dem Finger oder einem "buttonhook" , einem Knopfhaken, sonst ein Accessoire der weiblichen Toilette, um schwer zugängliche Knöpfe durch die Knopflöcher zu bekommen. So soll festgestellt werden, ob die Person unter einem Trachom leidet, einem ansteckenden Augenleiden, eine häufige Plage in den Elendsvierteln Galiziens und Russlands. Abraham Feld hat auf dem Schiff kaum geschlafen, seine Augen sind rot und geschwollen vor Erschöpfung; er zuckt erschrocken zurück, als ihm der Arzt mit dem Knopfhaken ans Auge fährt, um das Lid hochzuschieben. Er habe gemeint, er wolle ihm das Aug ausstechen, sagt er später, als er die Prozedur glücklich überstanden hat.

Endlich dürfen sie in die Fähre steigen, die sie aufs Festland bringen soll. Ausländer, denen aufgrund der genannten Bestimmungen die Einreise verweigert wird, werden nach Möglichkeit unverzüglich in die Länder, aus denen sie stammen, zurückgeschickt - am besten auf demselben Schiff, mit dem sie gekommen sind. Wenn der Abgewiesene nicht genug Geld hat, geht die Rückreise zulasten der Schifffahrtsgesellschaft. Auch von den Zwischendeckpassagieren der "Suevia" werden nicht alle aufgenommen. "Detained" , zurückgehalten, steht über ihren Namen in der Passagierliste gestempelt. Einige dürfen nach ein paar Tagen an Land gehen, bei genauerer Untersuchung hat sich herausgestellt, dass sie an keiner gefährlichen Krankheit leiden, bloß an Erschöpfung, oder Verwandte haben sich in Castle Garden gemeldet, um für sie zu bürgen. Hauptsache, sie fallen der amerikanischen Öffentlichkeit nicht zur Last. Ein paar werden zurückgeschickt nach Europa, sie waren so unvorsichtig, auf Befragen anzugeben, sie hätten bereits einen Arbeitsplatz.

Die Alien Contract Labor Laws von 1885, 1887, 1888 und 1891, denen zufolge jede Kontraktarbeit verboten ist, wurden nicht zuletzt auf Betreiben der amerikanischen Gewerkschaften eingeführt; damit soll die Praxis unterbunden werden, dass amerikanische Unternehmer aus Europa billige Arbeitskräfte holen, die bereit sind, für Löhne weit unter dem amerikanischen Niveau zu arbeiten, bei Bedarf auch als Streikbrecher. Galizische Bauern haben keine Ahnung, was ein Streik ist, von gewerkschaftlichen Organisationen, haben sie noch nie gehört. Die Bestimmungen gegen Kontraktarbeiter werden rigoros gehandhabt, manchmal genügt es, dass ein Einwanderer den Brief eines Verwandten mit sich führt, in dem ihn dieser auf einen Betrieb hinweist, um abgewiesen zu werden.

Auch Angehörige der amerikanischen Oberschicht sehen im ungehinderten Zustrom von Einwanderern aus den ärmeren Regionen Europas eine Gefahr, einmal für die Demokratie in den Vereinigten Staaten im Allgemeinen, insbesondere aber für ihren eigenen Wohlstand und ihre Sicherheit. Angesichts der sprunghaft zunehmenden Einwanderung organisieren sich die sogenannten "nativists" , Nativisten, angelsächsische, in Amerika geborene Protestanten, in Vereinigungen, die es als ihre Aufgabe betrachten, den Zustrom unerwünschter Elemente aus Europa, Fremder, einzudämmen. Unerwünschte Fremde sind für sie alle, die anders sind als sie, andere Sitten mitbringen, anders denken, anders beten, anders reden, anders fluchen. Iren und Italiener, Katholiken und Juden - manche "nativists" sind davon überzeugt, dass der Papst in Rom ein Komplott schmiedet, um Amerika zu übernehmen. Später richten sich ihre Vorurteile auch gegen die meist ungebildeten und mittellosen Zuwanderer aus Osteuropa, egal, welcher Nationalität oder Religion sie angehören. Amerika den Amerikanern. Weitere Nahrung erhalten solche Ressentiments durch die Befürchtung, mit den Immigranten aus Europa könnten Anarchisten, Sozialisten und andere Unruhestifter ins Land kommen, mit radikalen politischen Ideen im Gepäck und der Absicht, die amerikanischen Arbeiter zu Streiks aufzuwiegeln.

Keine Schande machen

Am 4. Mai 1886 wirft ein Unbekannter bei einer Protestkundgebung revolutionärer Arbeiter - in der Mehrzahl deutsche Immigranten - am Haymarket Square in Chicago eine Rohrbombe in die Reihen der Polizei, die versucht, das Treffen aufzulösen. Sieben Polizisten werden getötet. Als die Polizei darauf in die Masse der Demonstranten feuert, gibt es auch unter den Arbeitern Tote. Acht führende Anarchisten, sieben von ihnen Einwanderer, werden vor Gericht gestellt, bis auf einen werden alle zum Tode verurteilt, obwohl sich ihre Täter- oder Komplizenschaft nicht nachweisen lässt. Doch die toten Polizisten schreien nach Rache. Vier der Verurteilten werden im November 1887 hingerichtet, einer begeht im Gefängnis Selbstmord, bei zweien wird das Todesurteil in lebenslänglich umgewandelt. Die Ausschreitungen von Chicago, als Haymarket-Massaker in die Geschichte eingegangen, schüren in weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft, jedenfalls in den besitzenden Kreisen, die Ängste vor einer Überfremdung des Landes. In der Folge werden die Kontrollen in Castle Garden noch weiter verschärft.

Castle Garden, eine alte Befestigungsanlage auf einer kleinen Insel am südlichen Zipfel von Manhattan, wo sich heute der Battery Park befindet, wurde 1855 als Einwanderungsstation eingerichtet. Allerdings erwies sich die Anlage bald als zu klein, weshalb sie im April 1890 geschlossen wurde. Im Jänner 1892 wird das großzügiger angelegte, moderner eingerichtete Immigration Center in Ellis Island eröffnet. Die Prozedur bleibt im Prinzip die gleiche.

Auch Mathias Komara, Jakob Komara, Pál Popovic, Jan Virosztek und die anderen slowakischen Auswanderer aus Brutovce, drei Wochen vor Mendel Beck in New York eingetroffen, haben Castle Garden passiert. Auch sie haben alle Untersuchungen und Befragungen über sich ergehen lassen, um schließlich für gesund genug befunden zu werden, in Amerika als ungelernte Arbeitskräfte zu schuften. In Erz- oder Kohlegruben, in Eisenwerken, beim Bau von Eisenbahnlinien, mit deren Hilfe der Kontinent erschlossen wird, die junge amerikanische Industrie hat ständig Bedarf nach Arbeitern, die nicht viel fragen und keine hohen Ansprüche stellen. Die slowakischen Bauern bringen keine radikalen Ideen und keine Umsturzpläne mit. Davon haben sie in Brutovce noch nie gehört. In der Zips schimpft man, wie überall in den Dörfern, auf die Obrigkeit, auf die Beamten, die die Steuern vorschreiben, auf den Gendarmen, der einem eine Strafe aufbrummt, wenn man im Rausch randaliert, doch an Respekt gegenüber dem Staat haben sie es nie fehlen lassen. Sie sind jeden Sonntag eifrig in die Kirche gegangen und haben brav die Fasttage befolgt, um nicht den Zorn des Pfarrers auf sich zu ziehen und den Eltern keine Schande zu machen. So wollen sie es auch in Amerika halten.

1888 wandern knapp 540.000 Menschen von Europa in die Vereinigten Staaten aus. Der größte Anteil entfällt mit 110.000 Personen auf Deutschland, dann kommen England, Schottland, Schweden, Italien, erst an sechster Stelle folgt Österreich-Ungarn mit rund 46.000 Personen. Die überwiegende Zahl der Emigranten sind Männer, auch auf der "Suevia" sind Familien die Ausnahme, einzeln reisende Mädchen und Frauen sind in diesen frühen Jahren selten, wie die Passagierlisten zeigen. Erst später werden die Frauen nachgeholt, oft mit den Kindern. Dann gibt es Schiffe, die mehrheitlich Frauen im Zwischendeck nach Amerika bringen.

Der männliche Überhang bei der frühen Auswanderung bringt das Gleichgewicht der Geschlechter in den Dörfern der Herkunftsländer durcheinander, die Männer fehlen. In den Städten wird ihr Abgang durch den Zuzug vom Land ausgeglichen. Andererseits herrscht in Amerika ein Überschuss an jungen Männern.

In Galizien macht sich dieses Ungleichgewicht noch kaum bemerkbar, höchstens in einzelnen, von der Auswanderung betroffenen Dörfern. Im östlichsten Kronland der Monarchie hat die Emigration erst begonnen, von einer Massenauswanderung aus den österreichischen Gebieten kann man noch nicht sprechen, die setzt erst nach 1890 mit vollem Schwung ein, verhältnismäßig spät, gemessen an anderen Ländern. Mendel Beck, Hersch Springler, Abraham Feld, Mathias Komara und die anderen sind Vorboten einer riesigen Welle, die am Ende ganz Osteuropa erfassen wird. (Martin Pollack/DER STANDARD, Printausgabe, 14./15. 8. 2010)